Wenn Milchbauern auf die Barrikaden gehen – Ein Blick in Michel Houellebeqcs neuesten Roman

Rezension zu Michel Houellebeqcs Roman Serotonin 

von Michael Fassel

Das Lenkrad wird heftig nach links gerissen, der Wagen ist gefährlich nah am Abgrund. Der „Befreiungsschlag“ scheitert. Als Beifahrer an der Seite von Florent-Claude Labrouste möchte man sich in diesem Moment nicht wissen. Aber auch ohne dieses riskante, aus einem inneren Impuls gewagte Manöver würde man sich an der Seite des Ich-Erzählers und Anti-Helden in Michel Houellebeqcs neuestem Roman Serotonin nicht wohlfühlen. Der unter Depressionen leidende Mittvierziger hat keinerlei Hobbys und keine Freunde. Ebenso sind seine Beziehungen mit dem weiblichen Geschlecht gescheitert. Beim Lesen überkommt einen das Gefühl, dass suizidale Gedanken wie ein Damoklesschwert über der Hauptfigur schweben.

Handfeste Männlichkeitskrise

Schon zu Beginn klagt der Ich-Erzähler Florent-Claude Labrouste über seinen Vornamen, denn Florent passe sie nicht zu seinen „groben Gesichtszügen“, vielmehr zu einer „bottecellihaften Schwuchtel“ (S. 6). Wie bei Houellebeqc zu erwarten, deutet sich bereits auf den ersten Seiten eine Erschütterung des Männlichkeitsbildes des Protagonisten an, der sich als „substanzloses Weichei“ (S. 7) bezeichnet. Das Niveau des larmoyanten Duktus wird gehalten, allenfalls aufgelockert durch sarkastische Bemerkungen gegenüber Frauen, Homosexuellen und Migranten. Selbst längst überwunden geglaubte Vorurteilen werden durch den Ich-Erzähler erneut forciert, wettert etwa gegen Niederländer und Briten. Die unsympathisch wirkende Hauptfigur muss man aushalten, was eine literarische, aber auch gleichsam unterhaltsame Herausforderung darstellt.

Milchbauern vs. Bereitschaftspolizei
Zugleich bietet der Ich-Erzähler einen Abgesang an ein Männlichkeitsbild, dem er offensichtlich selbst nicht gerecht werden kann. Sein Leid ist seinem Wohlstandsproblem geschuldet, das nicht monokausal auf seine Depression zurückgeführt wird, derentwegen er Medikamente nimmt. Diese beeinträchtigen jedoch seine Potenz, ein wichtiges Faktum, das er offenbar mehrmals betonen muss. Seine Männlichkeitsvorstellung ist an die Sexualität geknüpft. Umso mehr fällt ins Gewicht, dass Florent-Claude seine letzte Freundin Yuzu wegen Sex mit Hunden verlassen hat. Man wundert sich nicht mehr über das ständige Gejammer und Geschimpfe, die die Absurdität seiner privaten Lebenssituation verstärkt. Beneidenswert hingegen ist sein Finanzpolster, die Frucht seiner lukrativen Stellung im Landwirtschaftsministerium, für das er Studien im Interesse der französischen Bauern erstellte. Ein geschickter Schachzug des Autoren, der hier dramaturgisch eine Brücke zur EU und ihren Regularien schlägt (vor allem das europaweite Rauchverbot in Hotels macht Florent-Claude zu schaffen). So verwundert es nicht, dass auch hier wieder eine Personengruppe gegen die EU auf die Straße geht: Florent-Claude wird Zeuge einer Demo bewaffneter normannischer Milchbauern, die die Straßen blockieren und der Bereitschaftspolizei gegenüberstehen.

Houellebeqc: Ein Untergangsprophet?
Die Szene wirkt dynamisch und atmosphärisch, ist aber keine wie von zahlreichen Literaturkritiker*innen gedeutete Prophezeiung der sogenannten „Gilets jaunes“ („Gelbwesten“-Proteste). Insbesondere im französischen Feuilleton wird Houellebeqc wegen der aufständischen Milchbauern zum Untergangsprophet verklärt und die Rechten sehen eine literarische Bühne für ihr EU-Bashing. Eine derartige Lektüre strapaziert den Text und weckt Erwartungshaltungen, die der Roman nicht bietet. Denn die politische Provokation ist anders als in Unterwerfung auf das Mikrokosmos der Milchbauern und ihren administrativen Fürsprechern beschränkt. Die Kritik an der EU, der Globalisierung und am Neoliberalismus wird mit Florent-Claudes teils angriffslustigen, teils resignativen Spottlust – offensichtlich die einzige Lust, die ihm noch bleibt – transportiert. Die Diffamierungen, der Hohn und Sexismus bleiben unreflektiert. Das macht die literarische Stärke des Romans aus und fügt sich adäquat in die Lebenskrise des Protagonisten, der Privat- und Berufsleben hinter sich lässt, ein, um mehr oder weniger in einem Mercury Hotel vor sich hin zu vegetieren.

Die Gesinnungsfrage
Während der Lektüre kommt noch eine weitere Frage auf: Wie viel Houellebeqc steckt in Florent-Claude oder vice versa? Der Schriftsteller, der sich gerne als Nationalist inszeniert und kurz vor dem Erscheinungstermin von Serotonin dem US-Präsidenten Donald Trump seine Sympathie bekundet hat, spielt ganz bewusst mit den Identitäten von Autor und Erzähler. Dies macht er so medienwirksam, dass man ständig Houellebeqcs Stimme in Florent-Claudes Krisennarrativ vermutet. Im Rahmen eines fiktionalen Textes die Symbiose von Autor und Erzähler zuzulassen und nach der politischen Einstellung des Schriftstellers zu suchen, ist ein literaturwissenschaftliches No-Go. Und doch scheint gerade bei der Beschäftigung mit Houellebeqcs Texten darin ein enormer Reiz zu liegen, wie in sämtlichen Literaturkritiken zu lesen ist, die trotz ihrer Seriosität in spekulative Fahrwasser geraten. Insofern muss man dem provocateur par excellence in der gegenwärtigen französischen Literaturlandschaft zugestehen, dass die Öffentlichkeit über ihn und seine Gesinnung spekuliert. Bei Serotonin funktioniert diese Eigensinnigkeit. Aber ob es Houellebeqc wieder gelingt? Ein Anti-Held wie Florent-Claude, der kaum Identifikationspotenzial liefert, ebenso wie der saloppe, aber gleich unterhaltsame Schreibstil, ist auf den 325 Seiten des Romans durchaus zu ertragen. Eine ähnlich frustrierte Figur dürfte uns im nächsten Houellebecq möglicherweise wieder erwarten. Abnutzungserscheinungen lassen sich dann nicht mehr karschieren.

Michel Houellebeqc: Serotonin. Dumont, Köln 2019.