Schnipsel

von Kristin Scheller

Gerda drückt die verzierte Holztüre auf. Die einzige im ganzen Haus, die nicht schlicht beige gestrichen ist, Pressspan zusammengehalten von bröckelnder Farbe, sondern massive Eiche mit sorgsam gepflegtem Lack. Sie quietscht unerträglich, denn Gerda kann sich nicht mehr tief genug bücken, um das untere Scharnier zu ölen. Doch für die alte Dame ist es das Geräusch von Heimat und Trost und vielleicht hat sie nicht immer nur vergessen, der Haushaltshilfe Bescheid zu sagen.

Sie läuft nicht mehr viel und das hat sie nicht den steifen Gelenken oder dem Krebs zu verdanken, der in ihr heranwächst, denn sie weigert sich, ihrer körperlichen Schwäche nachzugeben. Jeden Schritt begleitet das dumpfe, helle Aufsetzen ihres Stockes und, weil sie nur noch sehr kleine Schritte machen kann, ist Gerda schnell genervt von dem immer wiederkehrenden Laut, der sie verfolgt, wo auch immer sie sich entscheidet, zu sein.
Noch zwei Regale sind es, bis zu ihrem angestammten Platz in dem Ohrensessel, der, käme er in einer Geschichte vor, sofort ihren Unmut auf sich ziehen würde. Gerunzelte Augenbrauen, dort, wo noch Härchen wachsen, denn gibt es einen größeren Stereotyp als einen dunkelroten, samtenen Ohrensessel neben einem kleinen runden Tischchen in einer Privatbibliothek? Sie mag Klischees hassen, doch sie lebt sie. Und in welchen Erzählungen steht besagtes Stück schon unter einem Kronleuchter aus dem Ein-Euro-Laden, unechte Kerzen und Plastikgesteck inklusive.

Gerda hat sich nie viel leisten können, doch an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben musste sie einsehen, dass ihre Büchersammlung überhandnahm. Und als sie ihre Diagnose bekam, wusste sie, dass sie sich ihren Traum der Bibliothek noch erfüllen musste. Das ist jetzt sieben Jahre her. Sieben bis achte Jahre hat sie damals versprochen bekommen. Der Tumor in ihrem Darm ist jedoch nicht alleine geblieben und die Metastasen in ihrer Leber sind nicht die einzige Streuung. „In ihrem Hirn könnten sich Giftstoffe absetzen, Frau Schliebs“, hat ihr der Arzt gesagt und ihr dennoch irgendwie verschwiegen, dass sie sich plötzlich vor ihrem Paketboten entkleiden würde oder drei Tage lang vergessen würde, zu essen. Nun ist sie seit einigen Stunden etwas klarer im Kopf und sie nimmt an, dass das kein gutes Omen ist.

Sich hinzusetzen kostet Gerda genauso viel Schmerz wie das Voranschreiten und erst als sie sich vollkommen zurücklehnt, ihre Muskeln entspannend und halb in dem Sessel liegend, wie ein Faultier, das vom Baum gefallen ist, kann sie aufseufzen. Aus dem Seufzen wird ein Röcheln und aus dem Röcheln ein Husten. Blechtrommeln in ihren Lungen, Trillerpfeifen als Stimmbänder. Erschöpft greift sie nach dem Buch, das neben der Lupe auf dem kleinen Tisch liegt und hebt das Instrument zitternd vor die tanzenden Buchstaben, die sich nur mit viel Konzentration zu erkennbaren Worten zusammenpuzzeln lassen. Doch Gerda ist entschlossen. Gerda will ihr letztes Buch beenden.

Nach wenigen Minuten brennen die Sehnen ihrer Hand und vor ihren trockenen Augen scheinen auch die Buchstaben zu verkrusten. Sie will stöhnen, doch der Druck, der sich in ihrem Hals aufstaut, hat sich wieder aufgelöst, bevor sie ihn herauspressen kann. Stattdessen legt sie das Buch wieder auf den Tisch – es fällt ihr aus den Händen und landet mit einem lauten Knall gerade so darauf – und lässt die Lupe hinter sich auf das Sofa gleiten. Gerda ist so geschrumpft und abgemagert, dass das Möbel ein kleines Königreich für sie darstellt. Wie eine Miniatur im Puppenhaus, dessen Einrichtung wild zusammengewürfelt ist.

Die alte Dame stützt sich auf ihren Stock und stemmt sich hoch und setzt sich näher an das Bücherregal heran, das in Griffweite ist. Ihre kleine Bibliothek ist streng sortiert, nach Genres, Autoren und Veröffentlichungsjahren, so wie sie es als Kind in der Stadtbibliothek in Hamburg gesehen hat. Doch dieses eine Regalbrett ist einzigartig. Es enthält all ihre Lieblingsbücher. Die, in denen sie Bedeutung findet. Die, die sie durch ihre schwersten Zeiten brachten. Die, die sie auch in ihrem letzten Moment so nahe wie möglich bei sich haben will.

Eine gebundene Ausgabe von Der Rabe von Edgar Allan Poe, zum Beispiel. Sie ist dunkelblau, mit silbernen Fäden verziert und einem schwarzen Schnitt. In dem kleinen Regal mit der Schauerliteratur, am Anfang der letzten Reihe stehen noch zwei Ausgaben, doch diese behütet sie sorgsam, mit zusammengekniffenen Adleraugen und der Entschlossenheit einer Löwenmutter. Obwohl der Einband fünfzig Jahre alt ist, sieht er nur etwas blasser aus als damals. Der Text war das englische Original und hat sie schon in jungen Jahren begleitet. Das erste Mal hat sie ihn auf der Beerdigung ihrer Freundin Hannelore gehört – nur einen Ausschnitt, wenige Sätze. Doch auch sie verfolgte Lenore solange, bis sie sich entschloss, das ganze Gedicht zu lesen.

Gerda ist kein Freund der kribbelnden Furcht, die ihren Nacken entlangstreicht, wenn sie etwas Gruseliges liest. Doch Poes Rabe wachte über sie wie ein Schutzengel, an Hannelores Grab und bei dem Schwelgen in ihrer Erinnerung an scheue Küsse und rote Panik auf ihren Wangen. Durch den Schmerz, den ihre Freundin hinterließ und das Gefühl, ein Vakuum an ihrer Seite zu wissen, wo sie vorher gewesen ist, durch die Schuld, als die Trauer nach Jahren nachließ. Durch das erste Lächeln, das sich auf ihren Lippen fing, als sie daran denken musste, wie Hannelore ihre Kniften aß, indem sie jede Schicht einzeln abbaute.

Gerda atmet röchelnd ein, nachdem ihr Körper für eine etwas zu lange Zeit vergaß, weiter zu atmen. Sie streicht über den Einband und sieht das nächste Buch an. Sie nimmt es nicht heraus, starrt nur mit verschwommenem Blick darauf und lässt kurz Revue passieren, wie Bernhard und sie sich damals trafen, in dem Blumenladen nahe ihres Elternhauses. „Sie sehen aus, wie jemand, der Rosen liebt“, sprach er sie an, hielt ihr eine rosarote Blume hin und ahnte nicht, wie falsch er damit lag. Rosen – ein Klischee ohnegleichen, ohne jede persönliche Note, ohne wahres Gefühl. Und doch war sie errötet, nahm sie an und verstärkte ihren Griff um ihre neu-erworbene Ausgabe von Kabale und Liebe.

Gerda lacht auf, mehr ein Husten nach einem Zischen aus ihrem Brustkorb, als sie Poe zurückstellt und mit nach unten gezogenen Mundwinkeln wieder Luft in ihre Lungen zwingt. Sie vermeidet es, Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde auch nur anzusehen, ihm nur einen Gedanken zu widmen, doch nicht nur ihrem Körper, sondern auch ihrem Geist ist jegliche Anstrengung zu viel und sie wird in die Abwärtsspirale gezogen, die ihre Ehe gewesen ist. Sie sieht die leere Aggression in Bernhards Augen, fühlt jeden Schlag und riecht wieder den minzigen Horror, mit dem er sie schon nach dem Zähneputzen anschrie und –spuckte. Sein Mundwasser, jede Woche etwas zu schnell leer, seine Fäuste etwas zu blutig, Gerdas Haut etwas zu blau. Sie fühlt seine Palladium-Schuhe, die sich in ihren weichen Bauch drückten, seine raue Haut, die sich auf ihrer rieb, wenn er geil von der Arbeit nach Hause kam, sie fühlt all ihre Not, bevor sie die Kraft findet, sich in die Gegenwart zurückzuholen.

Tränen in den müden Augen, Hitze tief in ihrer Brust, greift sie trotzig nach Jean Anouilhs Antigone. Mit wieviel Angst in ihren Knochen und Freude in ihrem Bauch sie damals im Zug saß, in der Nacht, in der sie sich endlich befreit hat, diese Geschichte in der Hand und von da an im Herzen. Gerannt ist Gerda, obwohl ihr Mann noch gar nicht zurück gewesen ist, hat seine teure Ledertasche am Riemen gepackt und das Nötigste hineingeworfen, wie sie es sich monatelang erträumt hatte. Sie hat ihn nie wieder gesehen – ihn oder ihre Familie.

Und so bleibt Alice im Wunderland, das letzte Buch in der kurzen Regalreihe. Der Einband ist schlicht und rot, sehr gedeckt, die goldenen Buchstaben abgeblättert, sodass nur die Einkerbungen der Presse und Gerdas schwache Erinnerungen den Titel am Leben halten. Meine Güte, was hat sie dieses Buch zerlesen. So bunt wie ihr Leben nach ihrer Ehe war, so bunt ist diese Erzählung. Und zwar mit voller Absicht. Gerda hatte genug, als ihre letzten Blutergüsse abheilten und sie bei der kleinsten Bewegung von Fremden zusammenzuckte. Sie machte ihre eigenen Regeln und alles, wovon sie je geträumt hat. Reisen nach Paris – allein. Eine Ausbildung zur Drogistin – allein. Ein Haus am Waldrand – allein. So wie Alice sich durch das Wunderland und all seine Attraktionen kämpfte, so ging sie mit Optimismus und Freude durch den Rest ihres Lebens, vorbei an Männern mit Pfeife im Mund und geschrumpften Egos, an Frauen mit Missgunst in den Augen und rotem Lippenstift an ihren Zähnen, vorbei an allen, die ihr Böses wollten, mit singenden Blumen und keiner Katze, denn die wäre doch zu leicht vorherzusehen gewesen.

Gerda entlässt Luft aus ihren Atemwegen, ein Stück Schleim schleudert sich gleich mit hinaus und bleibt an ihren Zähnen hängen. Sie zieht schwer weiteratmend ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und sich selbst wieder zurück in die kleine ausgesessene Kuhle am anderen Rand des Sessels. Mit letzter Kraft greift sie wieder nach Ulysses, denn dieses eine Buch – das schafft sie noch. Und mit der Lupe in der Hand blättert sie die zweiundfünfzigste Seite um und steht nicht wieder auf.