Studieren bei Adorno

von Andreas Hohmann

Liebe Studierende, ich begrüße Sie ganz herzlich zur heutigen Veranstaltung. Nachdem wir ja beim letzten Mal einige unvorhergesehene Schwierigkeiten hatten, hoffe ich, dass wir diesmal inhaltlich einsteigen können. Dass uns beim letzten Mal ein Strich durch die Rechnung gemacht wurde, bedaure ich selbstverständlich nicht weniger als Sie. Menschliches Versagen ist leider auch in der modernen Universität nicht ganz vermeidbar.
Damals, als ich studiert habe – Wann das war? Zwischen ’58 und ’69, irgendwie so – Was? JA DOCH, natürlich weiß ich noch, wann ich studiert habe! Hab ich damals studiert oder Sie? Jedenfalls, damals, also, das war schon ein anderes Niveau als heute. Ich hab ja noch bei Adorno  studiert. Können Sie sich das vorstellen? Ja, natürlich bei mir! Bei wem sollten Sie sich das denn sonst vorstellen? Ihre Frage ist sinnlos. Präzisieren Sie! … Nicht? *brummt* Feigling! – ÄHHH, ich meine – ach, egal.
Jedenfalls, damals – als junger Student, da hat man all seinen Mut zusammengenommen und hat sich einer echten Herausforderung gestellt. Einer, die einem wirklich was abverlangt hat, nicht so wie heute in den Seminaren. Nein, damals musste man noch richtig arbeiten, um seine Scheine zu kriegen. Ich bin damals ins Oberseminar zu Adorno gegangen, und das – das kann ich Ihnen sagen – hat mein Denken radikal verändert.
Sie wissen ja, dass ich aus der Kritischen Theorie komme – Was? Postleitzahl??? ‚Kritische Theorie‘ ist doch kein Ort! Was – was lernen Sie eigentlich in der Schule?!?!?
Wo war ich? Ach ja. Ich hab bei Adorno studiert, am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Das war noch echtes Studium. Adorno gegen den Staat und die Ökonomie, die den Menschen für ihre Zwecke zu Recht biegen, und Adorno, der genau dagegen Einspruch erhebt. Wie bitte? Sie sagen, Menschen würden auch heute für die Wirtschaft zu Recht gebogen? Pffffffffff. Junger Mann! Ich darf Sie bitten, hier keine politischen Debatten anzustoßen. Wie Sie wissen, ist Wissenschaft grundsätzlich unpolitisch, und ich wäre Ihnen trotz all Ihrer politischen Neigungen sehr dankbar, wenn das so bleiben könnte!
Also, Adorno gegen den Kapitalismus. Sie kennen bestimmt alle diesen fast legendären Ausspruch: „So wüst und öd wie die Welt ist die Seele derer, die in ihr leben müssen.“ Was? Ja, Sie dahinten! … So, so, aha … na dann … Frau Z., ich betone noch einmal, dass ich diesen Exkurs nicht mache, um Sie zu Debatten über Probleme zu ermuntern, die Sie als Studierende in ihrer Komplexität ohnehin NICHT überblicken können. Das kann ein Studium auch nicht leisten! Sie sollen hier auf Ihren Beruf vorbereitet werden, nichts geringeres, aber das ist schon viel!
Also, damals, bei Adorno, da haben wir uns ja noch intensiv und kritisch mit unserem Thema beschäftigt – nicht so wie heute, wo die meisten Dozenten jeden Anflug von Kritik sofort abbügeln! Nee, damals – da wurde notfalls mit der Faust auf den Tisch gehauen, um Probleme anzusprechen! Das kennen Sie vermutlich heute alles gar nicht mehr. Damals, als wir gemerkt haben, die Gesellschaft will uns wieder gleichschalten, da haben wir nicht lange gefackelt. Nein! Wir haben die Uni besetzt! Wir haben noch gekämpft, und Adorno hat uns das Handwerkszeug, hat uns die Waffen dafür in die Hand gegeben.
Ich kann Ihnen sagen: Das waren gute Zeiten damals. In Frankfurt am Main, da habe ich etwas gesucht und gefunden: Die Auseinandersetzung mit Marx ohne Marx! Das war großartig … ich hab in vierundzwanzig Semestern nicht ein einziges Buch in die Hand genommen. Aber der Adorno, dieses Genie, hat uns kritisches Denken vermittelt. Sie kennen das ja: Autoritärer Charakter … und so … Ja? Ja, Sie schon wieder! Bitte was?! Was ich da im Seminar gemacht habe? Jo, also … öhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh … nun ja … also … puhhh … wenn ich so überlege … tjaaaaa … kann ich Ihnen jetzt gar nicht so … und man muss ja auch berücksichtigen dass wir damals ganz anders –
Galgenmännchen. Ich glaube, ich habe überwiegend Galgenmännchen mit meinem Nachbarn gespielt.