Winterwunderland

von Ankay

Mit einem leisen Seufzer lasse ich mich auf den Stuhl sinken und lange nach dem Radio, um dem ewig dahin quietschenden „Last Christmas“ den Saft abzudrehen.
Hätte ich Amanda doch nie diese CD gekauft…
Ich schmiege mich an das warme Leder des Sessels und blicke mich kurz im Zimmer um, bleibe mit dem Blick an meiner schlafenden Freundin hängen, lächele und drehe mich dann zum großen und einzigen Fenster im Zimmer, welches, wie alle anderen in unserer WG, zur Straße hin zeigt.
Desinteressiert schaue ich nach draußen.Selbst der Winter kann aus der grauen Hauptstadt nichts besonderes machen…Oder? Ich ziehe den Sessel so leise wie möglich näher zum Fenster hin. Man mag den Eindruck haben, dass Berlin nie schläft, aber jetzt ist unsere Nebenstraße von vollständiger, fast festlicher Ruhe erfüllt.
Es ist spät, schon fast eins und erst vor wenigen Minuten haben die Schneeflocken ihren schier unendlichen Weg zur Erde beendet. Über den deutlichen Autoreifen- und Fußspuren im weißgrauen Nichts liegt eine feine Schneeschicht, die das Grau des auspuffgeschwärzten Schnees nur leicht hindurch schimmern lässt. Auch das Dach unserer Nachbarhauses, welches dank seiner Form besser in eine friedliche Landschaftsidylle als in eine Stadt gepasst hätte, ist vollständig zugeschneit und die weiße Decke ist unberührt. Kein Vogel und kein Staubwölkchen hat sich darauf niedergelassen und trotz der Tatsache, dass ich das Ächzen der Dachziegel fast über die Straße und durch das geschlossene Fenster hören kann, hat sich noch kein Teil der Masse dazu entschlossen, vom Dach in den ebenfalls verschneiten Vorgarten des Grundstückes zu rutschen, nur um dort noch mehr Arbeit für die sowieso schon unterbezahlten schneeschippenden Nachbarskinder zu verursachen.
Auf dem kleinen Zedernbäumchen im Garten des Hauses, direkt neben dem verschneiten Briefkasten, liegt ebenfalls eine Schicht puderzuckrigen Schnees und die Pflanze wirkt schon fast wie ein kleiner Weihnachtsbaum, dem jemand die Lichterketten weggenommen hat. Es ist fast so, als ob jemand mit einem großen Puderzuckerstreuer den Schnee über allem verteilt hat, das sich nicht wehrt. Trotz des Neuschnees entdecke ich auf dem Bürgersteig Minifußstapfen neben größeren, welche vermutlich von teuren Lederwinterstiefeln mit Extradoppelschicht Baumwolle stammen.
Bestimmt hat sie irgendein Wahnsinniger hinterlassen, der es sich trotz der beinahe tödlichen Kälte nicht nehmen lassen wollte, seinen Hund Gassi zu führen und ich überlege, ob der Hund, der den Pfotenabdrücken zufolge nicht größer als 30 Zentimeter sein kann, die Tortur wohl überlebt hat.
Mein Blick wandert an der vereisten Stange der Straßenlaterne hoch, an der ich einen kleinen Fleck, etwas einen Meter über dem Boden entdecke, der vielleicht von einem sorglosen Kind aus der Nachbarschaft stammt, welches wie jedes Jahr die Zunge probeweise gegen das vereiste Metall gedrückt hat, nur um festzustellen, dass es auch dieses Jahr wieder sehr klebefreudig ist.
In der Mitte der orangefarbenen Leuchtröhre hängt ein langer, dünner Eiszapfen von dem
gemächlich, in einem einschläfernden Rhythmus einzelne Tropfen auf die unberührte
Schneedecke unter der Lampe fallen und langsam ein kleines Loch fräsen.
In der Ferne sehe ich weiße Dächer und den schwarzen Himmel, der im Norden leicht rötlich schimmert. Ob das das berühmt-berüchtigte Nordlicht ist? Ich muss lächeln und schaue am Fensterrahmen entlang, wo sich kleine Eiskristalle gebildet haben. Wie Kunstwerke kleben sie dort, wie hingemalt. Keiner wie der Andere. Vorsichtig hauche ich gegen die Scheibe und schaue ihnen fasziniert beim Schmelzen zu. Selbst durch die Scheibe reagieren sie empfindlich auf Wärme.
Ich spüre zärtliche Finger an meiner Wange und muss lächeln.
„Hey Mandy…Wieder wach?“ Langsam drehe ich mich zu ihr um und schaue sie an. Amanda lächelt und nickt. „Was machst du?“, flüstert sie noch etwas verschlafen. Ich kuschel mich an sie und antworte: „Den Schnee genießen.“