Dead Man Walking – Part 4

von Andreas Hohmann

 

Sein Name ist John Barrett, und er ist einzigartig. Weil er es als erster Mensch seiner Zeit geschafft hat, einen Polarwinter lang allein im arktischen Eis des Nordens zu überleben. Wie – das weiß niemand.

Dem Tod im Eis mit – wenn auch noch so knapper – Not entkommen zu sein, macht ihn drei Jahre später interessant für eine Forschungsexpedition unter der Leitung des Professors Dr. Dr. Emil Kanthorst. Ziel der Reise ist die legendäre Nordwestpassage – ein geheimnisumwitterter Seeweg genau in jener Region der Welt, in der John einst um sein Überleben kämpfen musste. Ob er den Weg kennt, weiß der Professor nicht. Denn John ist ein äußerst verschlossener Mensch. Aber er kennt die Gegend, viele ihrer Geheimnisse und die meisten ihrer lebensbedrohlichen Tücken.

Infolge seiner jahrelangen Reisen entwurzelt, knapp bei Kasse und ohne Perspektive, lässt sich John widerwillig auf die Expedition des Professors ein. Dass er überhaupt zusagt, liegt vor allem an Fernando Degaine und Luna McTye, zwei alten Bekannten aus Schul- und Studienzeiten. Sie sind die einzigen vertrauten Menschen, die ihm noch geblieben sind.

Nach mehreren Monaten beschwerlicher Seereise erreicht die Expedition den winterlichen Küstenort Port Vernon. Erst dort wird John bemerken, dass eine zweite Expedition mit der des Professors um die Entdeckung der Nordwestpassage konkurriert. Es wird ein Landgang mit Folgen …

*

Ich betrete den schneebedeckten Hof und denke noch so: Ich muss unbedingt lockerer werden, wenn ich – RUNTER!

Der Befehl meiner Reflexe ist erbarmungslos. Meine Muskeln gehorchen ihm lange vor meinem Bewusstsein.

Das – und nur das – bewahrt mein Auge davor, ausgestochen zu werden. Ich reiße den Kopf zur Seite, meine Nerven schreien vor Wut über ihre plötzliche Überbelastung.

Nicht mal das geringste Geräusch. Nicht mal ein Pfeifen!

Die Bedrohung, die nicht mal zwei Meter von mir entfernt steht, habe ich nur aus den Augenwinkeln gesehen. Letztlich hat mich nur die bloße Andeutung einer verräterischen Geste gewarnt, diese Art, unvermittelt den Arm zu heben.

Etwas Messerscharfes bohrt in die Tür – genau dorthin, wo vor weniger als einem Herzschlag noch mein Gesicht war.

Meine Faust schnellt vor.

Ich höre meinen Angreifer vor Schmerz aufheulen. Das Gefühl, das ich empfinde, ist unbeschreiblich, voll von jener grimmigen Genugtuung, die ein Gejagter empfinden mag, wenn er seinen Jägern bewiesen hat, dass er sein Leben teuer verkaufen wird.

Mein Angreifer taumelt zurück. Endlich habe ich Zeit, einen kurzen Blick um mich zu werfen. Nun begreife ich, was passiert ist:

Ein Wurfmesser, natürlich! Es hat nicht das geringste Pfeifen verursacht – nicht einmal dann, als es sich fast bis zur Hälfte in die Tür hinein gebohrt hat. Eine hervorragende Klinge, die einem hervorragenden Werfer gehört. Ich erkenne noch mehr Details. Keines davon ist im Moment wichtig. Was ich wissen muss, habe ich erfahren: Der Angriff war gezielt – und er sollte tödlich sein.

Meine Gedanken rasen. Mit einem Gefühl des bittersten Ausgeliefertseins erinnere mich an den unheimlichen Kapuzenträger, auf dessen Verlangen hin ich überhaupt erst zu diesem Treffen im düsteren Hinterhof jener Taverne gekommen bin, in der ich mit dem Rest der Expedition übernachte. Oh, wer auch immer dieser mysteriöse Teufel ist – er weiß, wer ich bin. Und er ist unerkannt geblieben. Verborgen in seinem Mantel, hat er dem Mann, den ich von allen Mitgliedern der Expedition noch am ehesten als Freund bezeichnen würde, mit Nachdruck nahegelegt, mich zu ihm zu bestellen. Das ist das, was in den letzten Minuten passiert ist.

Aber irgendwas stimmt hier nicht. Dieser frontale Angriff . . . er . . . er passt nicht ins Bild. Dieser düstere lauernde Jäger, der es offenbar auf mich abgesehen hat – er arbeitet nicht so. Er hätte sich nicht einem Gegenangriff ausgeliefert.

Ich blicke auf den Angreifer vor mir. In seinem Aussehen gleicht er dem Mann, um den meine Gedanken wie wahnsinnig kreisen. Aber er ist nicht er. Er trägt den gleichen Kapuzenmantel. Und er war auch mit jenem charakteristischen Dolch bewaffnet, mit dem mein Gefährte Fernando schon dazu gedrängt wurde, zu tun, was mein Verfolger von ihm wollte. Aber dennoch: Dieser Mann hier vor mir ist nicht der Kopf dieser Verschwörung.

Meine Augen werden groß.

Stolpernd und würgend hat er sich von mir fortgeschleppt. Er eilt direkt auf eine dunkle Ecke zu. Er will mit den Schatten verschmelzen! Ich weiß es! Ich würde es genauso machen. Aber diese Schatten hier werden ihm keinen Schutz bieten, sondern –

Wie benommen von dem, was mir gerade in diesem Moment klar wird, öffne ich den Mund zu einem dumpfen Warnruf.

Zu langsam.

Direkt vor dem fliehenden Mann löst sich etwas aus den Schatten. Pfeilschnell jagt es auf ihn zu, dann folgt eine Bewegung, die zu abrupt ist, um ihr zu folgen. Der Kerl, der mich angegriffen hat, bricht zusammen. Seine Hände wandern noch an seine Kehle, als ob ihn das retten könnte. Er sackt auf die Knie. Dann fällt er hintenüber, seine Augen bleiben genau auf mich gerichtet.

Mir wird schlecht, als ich diesen letzten Ausdruck auf seinem Gesicht sehe. Ein kaltes Entsetzen auf einem erkaltenden Stück Fleisch. Und dann ist da noch ein Anflug von Erkenntnis in seiner Miene. Er ist flüchtig, aber wie festgefroren. Der Tote wusste, wer ihn töten würde.

Und ich weiß es nun auch.

Vorhin im Schankraum, da habe ich mich geirrt. Ja, ich kenne vielleicht diesen Kapuzenträger, der nun vor mir im schneebedeckten Dreck liegt, nicht. Aber ich kenne den Kapuzenträger, der Fernando bedeutet hat, mich hierher zu schicken.

Der Mann, der meinen Freund eingeschüchtert hat, und der hier vor meinen Augen wie beiläufig einen anderen ermordet hat, tritt nun aus den Schatten. Mein Blick ist starr.

Ich werde töten, wenn ich muss. Normalerweise ist Skrupellosigkeit in solchen Situationen von Vorteil. Doch mein Gegenüber hat selbst bereits bewiesen, was ihm ein Leben wert ist.

Aber wenn er mich hätte töten wollen – hätte er das nicht längst getan?

Schließlich steht er so nah vor mir, dass ich Details seines Gesichts erkennen kann. Vorhin, im Schankraum, da konnte ich meine Augen nicht von seiner verhüllten Gestalt lassen. Jetzt sind meine Blicke unverwandt auf etwas anderes gerichtet: Auf der linken Wange des Mannes befindet sich eine Narbe, die knapp unterhalb des Augenlids beginnt und sich mehrere Zentimeter hinab bis zum Mundwinkel zieht.

Die Narbe, höre ich den Nachhall meiner Gedanken. Grausame Verunstaltung eines grausamen Menschen. Wie könnte ich nicht so denken? Ich erkenne meine Arbeit, wenn ich sie sehe.

„Hallo, John“, sagte die entstellte Kreatur vor mir. Wer nicht in ihre erbarmungslosen Augen sieht, könnte ihr Gesicht für versteinert halten. Der eisige Nordwind hat tiefe Furchen in ihre Haut gegraben. Nur die Augen sind von vulkanischer Intensität. Der Geist, der hinter dieser Fassade lebt, ist hellwach, lauernd und immer wachsam.

Es wundert mich nicht, ihn wiederzusehen. Doch es irritiert mich umso mehr, dass er nicht im Mindesten überrascht darüber ist, dass ich noch lebe. „Chevalier“, erwidere ich nur. „Mal wieder ein Leben ruiniert?“

Er sieht mich an, ohne zu blinzeln oder auch nur die geringste Regung zu zeigen. Dass er ein Leben genommen hat, kümmert ihn nicht. Er ist ein Profi, unerbittlich und gnadenlos. Die Sorte, die nur in meinem Zeitalter geschaffen wird, in dem allen wagemutigen Abenteurern klar wird, dass die weißen Flecken auf der Weltkarte allmählich verschwinden, und dass die allgemeine Aufmerksamkeit für Entdeckungsreisen immer geringer wird. Wer sich hier im Kampf um Geld durchsetzen will, darf nicht zögern, wenn es darum geht, Konkurrenten auszuschalten.

„Ich“, antwortet er ungerührt, „bin der Chevalier de la“, es folgen ein Wort, das ich nicht verstehe, und dann eine Pause. Dann setzt er nach: „Wenn ich nicht immer mal wieder jemanden umbringe, verlieren meine Leute die Angst vor mir. Außerdem war dieser hier ein minderwertiger Stümper und ein Lückenfüller. Sein Tod macht einen Platz in meiner Crew frei für einen neuen, ausrangierten Elitesoldaten. Du kennst ja meine Vorlieben.“

„Was wollt Ihr?“, will ich wissen.

Natürlich ist er niemand, der sich mit langen Vorreden aufhält. „Dich, John. Dich und die Nordwestpassage. Meine Expedition wird sie entdecken, und dein Wissen wird der Schlüssel zu unserem Erfolg sein. Du bist der Mann, der einen Winter lang allein im polaren Eis überlebt hat. Du bist das einzige, was in diesem Misthaufen von Siedlung auch nur ansatzweise von Wert ist.“

Ich balle die Hände zu Fäusten und mein Puls beginnt zu rasen. Zum ersten Mal seit Monaten empfinde ich etwas wirklich Intensives: Zorn. „Du willst mich zurückhaben, nachdem du mich vor anderthalb Jahren zum Sterben im Eis ausgesetzt hast?“

„In der Tat, John. Genau das will ich.“

Ich trete ihm so nahe, wie es nur möglich ist. Meine Hand liegt auf dem Griff meiner Pistole. „Ich könnte dich hier und jetzt töten!“

Er sieht mich an, völlig ungerührt. Dann verzieht sich sein Gesicht zu einer Grimasse. Er lacht mich aus und klingt dabei so gehässig wie jemand, der einen bereits hoffnungslos gebrochenen Gegner immer weiter demütigen will. „Kannst du dir vorstellen, wie oft mir schon jemand damit gedroht hat? Du hast die Wahl, John: Komm mit mir. Oder deine ahnungslosen Freunde drinnen werden für deine Dummheit bezahlen. Denn wenn die Lichter erst ausgehen . . .“

Wir beide wissen, dass er nicht mehr sagen muss. Mir wird klar, warum ich vorhin, als ich den Schankraum erstmals betreten habe, das überwältigende Gefühl einer allgegenwärtigen Bedrohung empfunden habe. Ich schaue auf den Boden zu der Leiche.

Verdammt, ich Idiot! Natürlich bringt der Chevalier nicht seinen einzigen Komplizen um!

Hinter mir, in der Taverne, sitzen meine Reisegefährten arglos über ihrem Abendessen.

Nicht die Bedrohung für mich ist allgegenwärtig.

Ein freier Platz für einen neuen, ausrangierten Elitesoldaten.

Die Bedrohung gilt ihnen!

Diese übrigen Kapuzenträger, über die ich mich vorhin noch gewundert habe: Sie sind ein Killerkommando.

 

… Fortsetzung folgt