Die Wurzel allen Übels

von Johannes Herbst

In ruhigen, sich wiederholenden Bewegungen fuhr er mit seiner zitternden Hand durch ihre verklebten Haare. Kaum wahrnehmbar kauerten sie neben der stillstehenden Rolltreppe. Er lehnte sich gegen die orange gekachelte Wand, sie lag in seinen Armen und ihr Kopf hob und senkte sich bei jedem seiner Atemzüge.
Zuvor verabredeten sie sich um viertel vor sechs am Kiosk „Turkoz“ direkt neben der S-Bahnstation. Sie kam 20 Minuten zu spät, er rauchte zwei Zigaretten und kaufte sich eine Packung Kaugummis. Kontinuierlich formulierte er seine Gedanken in Sätze, stellte sie wieder um und versuchte ihre Reaktion vorauszuahnen. Als sie ihm aber von hinten auf den Rücken sprang, drängte sich ihr Geruch durch seine Nase und vertrieb alles, was gerade noch den Platz in seinem Schädel eingenommen hatte.

„Was ist’n da oben?“
Er saß auf einem der wackligen Klappstühle in Christians Küche, bei dem heute mal wieder „Bergfest“ gefeiert wurde, und sie war wahrscheinlich verwundert, warum er auf den Geschirrschrank starrte und nicht auf eine der entblößten und prallen Lustfängerinnen um ihn herum. Christian war der Ansicht in seiner Küche alle existenziellen Grundbedürfnisse des Mannes zu vereinen und hängte mindesten ein Poster aus jeder Playboymonatsausgabe an die weiße Raufasertapete, die mittlerweile kaum noch zu sehen war. „…Was?“ Sie lachte: „Da oben?“ und zeigte auf den Pulk leerstehender Schnapsflaschen aller Nationalitäten. „Siehst du die Jägermeisterflasche da am Rand? Vor einem Monat hat die so’n koreanischer Austauschstudent mit auf die Party genommen. Deutsche Spezialität und so. Zu dritt ham wir die dann mit dem getrunken und am Ende lag der schüchterne Asiate nackt, schlafend und mit ausgepackten Gummi auf’m Bauch, hier bei Naddi im Bett. Sind die Enzyme oder so.“ „Was ist mit der Dicken, Runden? Die sieht cool aus!“ Vor einer Stunde hatte er mit Sergej eine halbe E geschmissen, auch wenn er sich selbst nichtmehr sicher war, ob es eine ganze oder halbe war. Und jetzt floss es nur so über seine bizelnden Lippen, ohne Aufregung, voller Enthusiasmus und vor ihm dieses Gesicht. „Wegen der hängt das fette Umleitungsschild im Flur. Aber des war auch en‘ edles Tröpfchen. Also angeblich. Das war so’n Tequila, den Chris für paarundfüffzisch Euro in dem Tabakladen am Bahnhof gekauft hat. Aber an sich find ich, dass Schnaps eh immer gorig schmeckt. Bin da mehr der Effekt- als Genusstrinker. Aber so’n schön entspanntes Bierchen natürlich.“ Er hob seine Flasche „Sorry, ich laber grad Scheiß!“, lachte und prostet in Richtung ihres Plastikbechers. Sie stieß an. „Ach, gar nicht!“  Damals wusste er noch nicht, wie sie hieß, dass sie nur fünf Haltestellen von ihm entfernt wohnte oder wie eden ihre Schenkel in dem gedimmten Licht seiner Nachttischlampe glänzten.

Die Glasscheibe der Schranktür schepperte billig. Sie stellte ihm das Pintchen hin, in dem gerade noch ihr Zeigefinger gesteckt  hatte und setzte sich auf eine umgedrehte Bierkiste. „Wollen wir einen? Nur für den Effekt.“ „Eigentlich sollte ich dich doch zum Ficken abfüllen oder wie geht des? Mich brauchst nicht weiter rumkriegen.“ Gnadenlos ehrlich. Er konnte nicht anders. Aus ihrem Schmunzeln presste sich ein kichernder Luftstoß und ihre Augen bedankten sich, als hätte er ihr ein bescheidenes Kompliment gemacht. Als der klare Schnaps beim Anstoßen über seinen Handballen lief, warf er zum ersten Mal einen ungefilterten Blick direkt in ihr Gesicht. Ihre einnehmend großen Augen lugten aus dem sanften Schattenansatz, der diese umgab. Alles, was tief ist, muss nun mal im Dunkeln liegen. Müde strahlten ihre Augen in einem leichten Rotschimmer. Das zarte Braun, das um ihre weiten Pupillen kreiste, legte sich auch auf ihrer Haut nieder. Die Wangen waren gesprenkelt mit hellen Vernarbungen. Früher sicher Akne. Die Schulzeiten waren allerdings vorbei. Auf dem Nasenrücken, der an einer Stelle leicht eingedellt war, wie durch einen Fingerabdruck, verloren sich kräftige Sommersprossen, die über ihren Wangenknochen hinweg verblassten. Hinter dem unbemalten Dunkelrosa ihrer Lippen, kamen und verschwanden die zwei großen, geraden Schneidezähne, neben denen sich weitere, wunderschöne Zähne wurzelten. Unten hingegen war der Platz zu eng und kaum einer der kleinen Weißen stand aufrecht, allerdings wurde dies gut von ihrer fingerdicken Unterlippe kaschiert.
Wie in den Düsen eines Whirlpools sprudelte das Blut durch die Kreisbahnen seines Körpers. Die Tablette. Fast gleichzeitig krachten die Gläser auf den Tisch, und ihre verzogenen Gesichter entkrampften sich in ein vereintes Lachen. „Sag ich doch!“ Behutsam fuhr er mit seinen schwitzigen Fingerkuppen über den rauen Stoff ihrer gespannten Jeans. Gekreuzte Blicke.
Sergej kam mit zwei Bechern Wasser durch die Tür getaumelt: „Aaaaalder, die Ioonen, mein Bester, die Iooonen!“ Beide stürzten den Inhalt der bis zum Rand gefüllten Becher herunter und umarmten sich herzhaft in pendelnder Bewegung. Die Küche füllte sich schlagartig und während er wahllose Kommentare und Augenzwinkern an die eintretende, angesteifte Partymeute verteilte, sah er, wie sich ihre beiden Backen gerade zwinkernd aus der Tür verabschiedeten. Mit ausgestrecktem Arm prostet er in die Runde, exte die Mischung aus Tomatensaft, Wodka und Tabasco, die ihm irgendjemand in die Hand gestellt hatte, und ging. Fallende Erlösung, als er ihren abstehenden Pferdeschwanz aus dem Bad schwingen sah, nachdem er, mit ansteigender Herzfrequenz, in alle Zimmer zweimal gespäht hatte. „Hey!“ Peinliche Berührtheit mischte sich unter die erleichterte Begeisterung. „Ey. Wollt auch grad aufs Klo.“ Er klang wie ein Laienschauspieler bei seiner ersten Probe. „Viel Spaß.“ Sie zwinkerte, genauso wie er es sonst immer tat. „Ich bin im Wohnzimmer.“
Selbstsehend, seine monströsen Pupillen motivierten ihn ungemein. Er öffnete den Wasserhahn und erlebte das harte, eisige Wasser in seinen Händen. „Kannst du es fassen? Kannst. Du. Es. Fassen?“
Kopfschüttelnd öffnete er die Badtür und flüsterte über sein Strahlen hinweg: „Unglaublich!“

Der Rauch prallte gegen die verregnete Aprilluft und zog über ihr Gesicht hinweg, direkt in das Wohnzimmer. In abstrusen und abgehackten Bewegungen schob er seinen schlaksigen Körper zu bassigem, aber einfühlsamem Elektroplätschern quer durch den Raum. Der Kontrast zwischen dem, wie es aussah, und so, wie er die Musik innerlich zelebrierte, hätte nicht größer sein können. Sie nahm ihn glücklicherweise erst wahr, als er sich kopfnickend aus dem Fenster lehnte. „Meinste, man würds überleben?“ „Also, ich hätt kein Bock heute runterzufallen. Aber zum Springen würd ich mir was Höheres aussuchen.“ „Vielleicht fühlst du dich im langen freien Fall dann so geil und lebendig, dass du dein‘ Sprung bereust. Aber wahrscheinlich klatschst du auch einfach nur mit nem dicken Grinsen auf, weil du noch einmal dieses Gefühl feiern darfst, das dir zum Weiterleben gefehlt hat.“ Das Feuer tanzte um die wackelnde Zigarette in seinem Mundwinkel. Stoßweise dampfte es aus seinen sich bewegenden Lippen, „Ich könnt mir aber nie vorstellen zu springen. Egal wie dreckig mir’s ging!“ „Hast du noch kein Mal in deinem Leben drangedacht.“ Er schwieg. „Vielleicht. Gab schon Zeiten, da wollt ich am nächsten Tag nicht mehr aufwachen. Eigentlich hab mir eher gewünscht, dass die ganze Welt über Nacht explodiert.“  „Warum die ganze Welt? Ich find, das hat doch nur was mit dir zu tun.“ „Dann müsst ich mir keine Sorgen machen, was zu verpassen.“ Ihre Hand fiel auf seine Schulter und glitt unter leichtem Druck den Arm hinunter „Idiot…. Doch ich glaub, wir Mädels sind da öfters dramatischer. Bei mir gab’s da schon mehrere Phasen. Am End ist es doch meist Kinderkacke, aber man glaubt halt irgendwie, dass alles kein Sinn mehr macht. Hätt ich mich wegen irgend so ’nem Arschloch umgebracht, was hätt ich alles Geiles nicht mehr erlebt.“ „Allein heute!“, fiel er ihr ins Wort.
Nach ihrem Zweizigaretten-Gespräch mit dem Ergebnis, dass dieses eine Leben eh schon zu kurz sei und mit einer rückblickenden Wehmut, man die meisten Möglichkeiten unberührt an sich vorbei jagen lässt, ergatterten sie sich die frisch geräumte Couch. Er sprach grad von dem „Privileg der Entscheidung“, das in der Welt ungerecht verteilt sei, bis er sich selbst lachend unterbrach, „Wie ein scheiß Hobbyphilosoph.“ Mit sanftem Schwung klatschte seine Handfläche auf ihren Oberschenkel. Sie schwieg, er sagte das, was ihm als Einziges in diesem intensiven Augenblick in seinem Kopf brannte. „Du bist wirklich hübsch!“ Sie lachte verwirrt und schüttelte nur verlegen mit dem Kopf. „Und du weißt es auch! Käm‘ ja jetzt auch schon recht eingebildet rüber, würdest es abnicken. Aber dir ist doch klar, dass die ganzen Boys hier auf dich stehen?“ Er erwartete eine Antwort, bekam aber keine. „Wollte das Gespräch jetzt nicht auf’n verkrampften Status bringen, sorry!“, er zwinkerte, „Glaub ich hab mich mit keinem hier so lang unterhalten ohne diese ganzen Standardgespräche über die Uni vorher abzuhaken, um dann zu merken, dass man sich doch nichts zu sagen hat. Könnt auch daran liegen, dass du einfach von mir zugeschwallt wirst.“ Ihre Finger verschwanden zur Hälfte im Dunkelbraun ihrer ungeglätteten Haare „Du bist süß!“ Er strahlte. „Hast mich deshalb angesprochen?“ Diese Frage konnte ihm nur druff herausrutschen, ansonsten wäre einfach froh über solche Aussagen gewesen und hätte jede Möglichkeit einer Enttäuschung verdrängt.

„Können wir gehen?“ Vor ihnen stand eine hochgehackte Blondine. Ihre gesteppte Jacke war zu warm für den Frühling, aber ihm gefiel, wie sich ihre dünnen, glatten Strähnen im Pelzkragen verfingen. Sie musterte ihn. Während ihr Blick wieder seine Sitznachbarin fokussierte, hoben sich ihre Augenbrauen und sie wiederholte genervt: „Können wir gehen?“ Er hatte sie nur zu Beginn der Feier gesehen, dann hatte sich ihr Freund oder zumindest jemand, mit dem sie im Hausflur irgendwelche Zungenspiele veranstaltet hatte, so abgeschossen, dass sie die restliche Zeit mit ihm in Naddies Zimmer verschwunden war. Nur selten war sie aus dem Zimmer gestampft, um dann mit einem überschwappenden Becher Wasser in der Hand wieder zurück zu stampfen. Da ging wohl nichts mehr.
„Gleich.“ „Will den Bus um zwei aber noch bekommen!“ Sie stöckelte bis zur Wohnzimmertür, lehnte sich in den Rahmen, warf einen Blick zurück, während sie ihr bläulich leuchtendes Handy aus der Tasche holte und tippte.
„Meine Mitbewohnerin.“ „Du studierst doch hier, oder? Dann laufen wir uns eh die Tage mal übern Weg. Ich halt Ausschau. Bei so ’nem hübschen Mädchen, kein Problem. Du weißt Bescheid?!“ Er zwinkerte und für ihn bestand in diesem Moment tatsächlich kein Zweifel daran, dass sie sich wiedersehen würden und sie das auch wollte. Mit Mühe kamen sie aus der tiefen Ledercouch. Sobald sie standen, nahm er sie in den Arm, aber nicht so wie man es beim Begrüßen oder Verabschieden einer guten Freundin macht, sondern fester, näher, und mit fassenden Händen, die Distanz schluckend. Er spürte die winzige Erhebung an ihrer Wange, als er seine dagegen presste. Seine Lippen küssten, auch wenn vor ihm nichts zu küssen war.
An diesem Abend hatte er seinen ersten One-Night-Stand. Vielmehr ein Quickie im kalten Kellergang. Sie hieß Sophi, war nur zu Besuch bei einer Freundin, hatte centstückgroße Nippel, die nicht zu ihren fleischigen Brüsten passten, und einen Nasenring. So einen wie bei der Viehzucht.

Um sieben schabte er mit seinem Haustürschlüssel um das Schloss seiner Wohnungstür. Erst um halb zehn konnte er schlafen, auch wenn das ergebnislose Onanieren und der blendende Bildschirm ihn immer müder machten. Fuhr er sich mit seinen Fingern kratzend durchs Gesicht, dachte er an Sophi und fühlte sich gut. Geträumt hatte er allerdings nur von ihr, seiner Bekanntschaft aus der Küche, diese Zähne. Als er um zwei aufwachte und noch einmal bis halb vier schlief, stand er wieder in Christians Wohnung. Er kam mit seiner Ex-Freundin. Aber sie stand bereits da. Er grüßte, so dass seine Ex-Freundin davon nichts mitbekam, aber sie grüßte nicht zurück. Verschwand im Wohnzimmer. Er unauffällig hinterher. Das Zimmer war eine riesige, weiße Halle, in der nur das schwarze Ledersofa stand und am weit entfernten andern Ende ein kleines schwarzes Rechteck. Er rannte und das schwarze Viereck wurde immer größer, doch je näher er kam, umso vernebelter wurde die Sicht, bis er sich durch dicke Rauchschwaden quälen musste. Sie stand in Flammen vor dem geöffneten Fenster. „Du brennst!“ „Ich weiß!“, und sie stieß ihn hinaus ins Dunkle. Er fiel, prallte auf und erwachte.

Auf der Treppe zur Mensa kamen sie sich dann an einem Mittwoch einander entgegen, sie mit der Blonden an der Seite. Er erkannte sie sofort, stellte sich zunächst aber auf blind und lief in sein Handy starrend an ihr vorbei.

Fast ein Jahr kannten sie sich jetzt. Und es dauerte ungefähr vier Monate, bis der erste von beiden die L-Bombe fallen ließ und der zweite nachzog. Sie sahen sich oft, rauchten viel Gras, trieben und übertrieben es miteinander und sprachen immer häufiger über irgendwelchen Unistress.
Seit vier Wochen kannte er dieses andere Mädchen, das im Kleist-Seminar links vor ihm saß, evarote Haare. Er hatte sie gefragt, ob sie zusammen das Referat über „Amphitryon“ halten wollen. Voll im Flirtmodus. Wenn sie manchmal zusammen zur Haltestelle liefen und redeten, fühlte er sich wie in der Schulzeit. Der eine Tag, an dem man sich mit seinem Klassenschwarm zufällig ein Stück vom Heimweg teilt. Er verglich sie andauernd mit ihr.

Christian war mittlerweile umgezogen und als er ihm beim Packen half, redeten sie stundenlang über die legendären „Messen“, die sie dort gehalten hatten. Dieser eine Abend. Aber heute musste er ihr sagen, dass es nicht mehr weiterginge. Auch wenn es ihm wehtat, aus ihrem Leben zu brechen. Es fiel ihm schwer, denn es gab so gut wie nichts an ihr, das ihn störte, und ihre bedingungslose Liebe schüchterte ihn fast schon ein. Nicht ein einziges Mal spürte er das Stechen der Eifersucht. Er fand sie immer noch hübsch, aber wollte doch immer öfters in fremde Schenkel beißen, wissen, wie sich diese oder jene Lippen wohl anfühlten. Aus diesem Grund wollte er sich heute auch draußen treffen und eigentlich nüchtern bleiben. Er holte allerdings noch zwei Pils am Kiosk und sie hatte bereits einen vorgewickelt. Drei Stunden lagen sie im auskühlenden Park und unterhielten sich über ihren daueralkoholisierten Dozenten.
„Gehn wir noch zu mir? Lena ist grad wieder in der Heimat“ Er war kurz davor über die kleine Schwelle in ihm selbst zu steigen und es endlich zu sagen. Doch dann dachte er, die Zeit bis zu ihr wäre optimal, um alles genau zu überdenken. „Klar!“ Sie küssten sich.

Das „Turkoz“ hatte bereits seine mit glänzendem Chrom besprühten Rollos unten und das Schild der U-Bahnstation leuchtet in zwei verschieden starken Lichthälften. „Ey, du Schwuchtel! Ist was?“ Er roch die süßliche Fahne beim Vorbeigehen, drückte seine Hand noch fester um ihre und mit engeren Schritten erhöhten sie ihr Tempo treppab.

Ein Fuß schallerte aus vollem Schwung kurz über die rechte Seite ihres Beckens. Der Zehner landete lautlos auf dem Boden. Ihr Körper krümmte sich unnatürlich zusammen, während sie regelrecht zur Seite geschoben wurde. Sie fiel, schlug auf, rollte, schlug wieder auf, die Arme vom Körper gestreckt. Er stand zwölf Stufen von ihr entfernt und kreischte ihren Namen. Sie antwortete nicht, nicht einmal ein Zwinkern, obwohl ihre Augen weit aufgerissen waren.