von Lisa Pilhofer
Alles fängt damit an, dass sich zehn Männer vor dem Roten Rathaus in Berlin versammeln und in einen Hungerstreik treten. Ihre Hautfarbe ist schwarz und sie sprechen kein Deutsch. Sie kommen aus Libyen, aus Nigeria, aus Äthiopien, aus Ghana, sie sind alle aus ihren Heimatländern vertrieben worden oder geflüchtet; und sie alle wollen in Deutschland bleiben und dort arbeiten.
Doch ob sie das dürfen, muss erst geprüft werden.
In Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen fängt der verwitwete und emeritierte Professor Richard an, sich für die Geschichten der Flüchtlinge zu interessieren und unterhält sich mit ihnen.
Dabei erfährt er, wie Raschid aus Nigeria mit dem Boot nach Italien geflüchtet ist und 550 von 800 Flüchtlinge ertrunken sind, als das Rettungsboot der Küstenwache endlich kam.
Er redet mit Awad aus Libyen, dessen Vater ermordet wurde und der von Militärs mit anderen Landsleuten auf ein Boot gezwungen und vertrieben wurde. Wer sich weigerte, wurde erschossen.
Er bekommt mit, wie die Männer und sogar Jugendliche von Unterkunft zu Unterkunft geschoben werden, wie die Prüfungen ihrer Fälle sich in die Länge ziehen und die Ergebnisse immer anders sind, als versprochen.
Er begleitet sie auf Behördengänge und er sitzt mit ihnen im Deutschunterricht und beim Anwalt.
Dabei lernt der Leser nicht nur, wie undurchsichtig und verworren die Gesetzeslage für Asylbewerber ist und welche Hindernisse ihnen im Weg liegen, bis sie ihre Papiere bekommen und arbeiten dürfen. Denn Asylrecht haben sie nur in dem Land, auf dem sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben, was in so gut wie allen Fällen Italien ist. In Italien wird ihnen aber auch nicht geholfen, daher gehen sie nach Deutschland. Der Leser erfährt auch, was die Männer alles durchmachen mussten, wie sie den Krieg in ihren Heimatländern erlebt haben und bis zu ihrer Ankunft in Europa jedes Mal knapp dem Tod entronnen sind.
Im Roman wird deutlich, dass die deutsche Bürokratie es offensichtlich darauf anlegt, den Asylbewerbern so viele Steine wie möglich in den Weg zu legen, und dass sich eigentlich niemand um sie kümmern möchte. Die unterschiedlichen Lebensgeschichten der Flüchtlinge sind besonders interessant zu lesen, weil man hier Einblick in Einzelschicksale bekommt, die dennoch auf alle Flüchtlinge zutreffen. Es sind Menschen, die unter Lebensgefahr nach Europa gekommen sind, nicht, weil sie das wollten, sondern weil sie es mussten. Sie haben alles verloren und wollen nichts weiter als Arbeit, damit sie wieder selbständig leben können.
Leider wird im Roman viel zu sehr die Unterstützung durch Privatpersonen in den Vordergrund gerückt, statt eine Lösung in der Politik zu suchen: Der Protagonist Richard hilft den Flüchtlingen, wo er kann. Er lädt sie zu sich nach Hause ein, er kocht ihnen Essen, er kauft ihnen Kleidung, er gibt ihnen Geld und Arbeit (u.a. Gartenarbeit bei sich im Garten), er lässt sie bei sich übernachten und hat auch einen Freundeskreis, bei dem noch andere Flüchtlinge zeitweise unterkommen. Doch Richard ist ein gelangweilter, pensionierter Gelehrter ohne Familie und mit guter Rente und Freunden in der oberen Mittelschicht, die die Zeit für Hilfe in diesem Ausmaß aufbringen können und das nötige Kleingeld dafür haben. Doch Richards Engagement, den Flüchtlingen zu helfen und vor allem die Art, wie er es tut, macht den Roman an manchen Stellen zu einem utopischen Weltverbesserungs-Versuch. Der aber so nicht funktioniert, schließlich sind es mehrere Tausend Flüchtlinge, die Unterstützung benötigen, und nicht nur zehn.
Nichtsdestotrotz ist es ein gelungener Roman, der dem Leser als Laien Aspekte des Asylrechts erklärt und vor allem zum Nachdenken bringt: „Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll?“