Rezension zum französischen Psychothriller „Elle“
von Wiliam Mertens
„Did you ever experience this in your life?” Auf diese direkte Frage eines Reporters bei der Pressekonferenz zum Wettbewerbsfilm L’avenir auf der diesjährigen Berlinale fand die französische Schauspielerin Isabelle Huppert eine schlagfertige Antwort: „Ça ne vous regarde pas!“ (‚Das geht Sie gar nichts an!‘). Ob sie so etwas Krasses wie die Protagonistin in ihrem darauf folgenden, in Cannes uraufgeführten Psychothriller Elle (Regie:Paul Verhoeven) erlebt habe, hätte sich wohl niemand zu trauen gefragt. Schließlich spielt die Actrice hier eine Frau, die ihr Leben nach einer brutalen Vergewaltigung im eigenen Haus neu ordnen muss.
Michèle Leblanc (Isabelle Huppert) weigert sich im Anschluss an das Verbrechen, zur Polizei zu gehen, der sie seit der in den Medien immer wieder aufgebauschten Verhaftung ihres mordenden Vaters in ihrer Kindheit misstraut. Stattdessen beseitigt sie alle Spuren und versucht im Berufsalltag als Leiterin einer Computerspielfirma wie bisher weiterzumachen. Doch als sie mysteriöse Nachrichten des Täters erhält, beginnt sie zunächst im Arbeitsumfeld mit der Suche nach dessen Identität.
Diese private Ermittlung und Rachegeschichte entwickelt sich zu einem in der Entwicklung mit Überraschungen gespickten, hochspannenden Katz- und Mausspiel. Ähnlich wie in der Rolle der vom langjährigen Ehemann verlassenen Philosophielehrerin in L’avenir schafft Huppert hier eine komplexe, äußerst starke Frauenfigur, die im Verlauf der nie vorhersehbaren Handlung eine ungewöhnliche Entwicklung durchläuft. Auch in Elle werden die veränderten Lebensentwürfe einer Frau mittleren Alters nach der Scheidung, ihre Karriere und die Konflikte einer Patchworkfamilie facettenreich ausgelotet. In diesem Zusammenhang gestalten sich Michèles Beziehungen zu ihren Eltern und ihrem Sohn, ihren alten und neuen Partnern und vor allem zu ihrem Vergewaltiger besonders interessant. Vor allem durch letztere erweist sich Hupperts Figur in diesem Film allerdings als deutlich schwieriger greifbar. Die persönliche Verbindung und die Verschwimmung der Grenze zwischen Opfer und Täter sind über 130 Minuten jedenfalls äußerst spannend zu verfolgen.
Für ein elektrisierendes Filmerlebnis sorgt neben Hupperts schauspielerischer Tour de Force auch die fokussierte und elegante Inszenierung von Paul Verhoeven, der u.a. durch Basic Instinct (1992) mit der spannenden Darstellung von Sex & Crime bestens vertraut ist. Der Niederländer realisierte mit Elle seinen ersten französischsprachigen Spielfilm, ein großes Comeback nach Flops wie Showgirls (1995), das sein Publikum von Anfang an in seinen Bann zieht. Bereits die erste Szene zeigt die verstörende Vergewaltigung mit ungeschönter Brutalität. Den Mordszenen mit dem Eispickel im oben genannten Thrillerklassiker nicht unähnlich, sind diese und weitere Gewaltdarstellungen blutig und kompromisslos, wodurch sie umso mehr verstören. Gleichzeitig unterläuft Verhoeven aber auch die Erwartungen, die man genrebedingt an einen solchen Spielfilm stellen dürfte.
Als Elle anlässlich des 26. Film Festival Cologne in der ASTOR Film Lounge des Residenz-Kinos in Köln gezeigt wurde, musste ich mich entsprechend in Schockmomenten mehrfach an den äußerst bequemen schwarzen Ledersesseln festkrallen. An anderen Stellen des Films blitzt dagegen immer wieder ein provokanter, bösartiger Humor auf, vor allem bei der Zeichnung der komplizierten Verhältnisse im Familien- und Freundeskreis der Protagonistin. So ging etwa bei den Wortgefechten zwischen Michèle und ihrer Mutter ein Raunen, Kichern oder gar lautes Lachen durch den Kinosaal. Teilweise ist in diesem verstörenden Psychothriller die Grenze zwischen Gewalt und Humor sogar fließend.
Insgesamt erweist sich Isabelle Huppert durch ihr nuanciertes, fesselndes Spiel als Star der beiden europäischen Filmwettbewerbe 2016. In Elle zeichnet sie eine derartig ungewöhnliche, ambivalente Protagonistin, deren Psychologie und Verhalten sicherlich eine Debatte über filmische Darstellungen von Frauen, die in psychische, physische und sexuelle Gewalt involviert sind, entfachen wird. Inwiefern diese hier feministisch geprägt oder politisch inkorrekt sein mag, lässt sich nach dem derzeit noch unbekannten Kinostart diskutieren.