Straßburg – Elsässischer Charme zwischen europäischen Machtzentralen

von Michael Fassel

Fachwerkstil, üppig blühende Geranien, der Duft frisch gebackener Crêpes – all das bietet das Straßburg. Bon voyage! Ja, Reisen ist seit geraumer Zeit wieder möglich, die LiteraListen schwärmen also wieder aus, um euch ein paar schöne Flecken näher zu bringen.

IMG_20210922_182725410

 

Im Herz der elsässischen Stadt ragt das Straßburger Münster in den wolkenlosen Himmel, das durch seine unverwechselbare gotische Architektur nicht nur mich, sondern schon Goethe beeindruckt hat: „Wie das festgegründete ungeheure Gebäude sich leicht in die Luft hebt; wie durchbrochen alles und doch für die Ewigkeit.“ Seine Worte sind aufschlussreich, wenn man sich fragt, warum der Nordturm nicht aus einem dichten Mauerwerk, sondern aus vielen Streben besteht. Denn dank der „löchrigen“ Konstruktion hielt der Turm – der übrigens mit seinen 142 Metern von 1647 bis 1874 als höchstes Bauwerk der Christenheit galt – über Jahrhunderte Wetterkapriolen stand und bot selbst starken Windböen die Stirn. Goethe sollte Recht behalten.

IMG_20210923_161149203

Immerhin kann das Straßburger Münster heute für sich beanspruchen, die zweithöchste Kathedrale Frankreichs zu sein. Dementsprechend ist der Aufstieg zur Aussichtsplattform nicht zu unterschätzen. 329 Stufen sind zu erklimmen, um das umliegende Panorama, die Vogesen im Elsass und den Schwarzwald, zu bewundern. Der Ausblick lohnt und entschädigt die Anstrengung – insbesondere wenn man mit FFP2-Maske die Wendeltreppe bezwingt. Eine medizinische Maske hätte gereicht und mein Keuchen wäre nach der Hälfte nicht ganz so heftig ausgefallen.

Übrigens: Bestimmte Quellen wie etwa Reiseführer und touristische Online-Seiten runden auf 330 Stufen auf, manchmal ist die Rede von 332. Bei nächster Gelegenheit bitte nachzählen und uns eine E-Mail schreiben!

Genug der Zahlen. Die Cathédrale Notre-Dame wartet noch mit anderen unvergleichlichen Sehenswürdigkeiten auf. Zu nennen wäre etwa die als Wunderwerk gehandelte Astronomische Uhr. Sie ist ein beeindruckendes Produkt des 16. Jahrhunderts, erwachsen aus der synergetischen Zusammenarbeit von Glaube und Technik. Die Darbietung der Uhr ist aber nicht nur ein Zeugnis dafür, dass disparate Wissenschaften Hand in Hand über sich hinauswachsen können, sondern vergegenwärtigt anschaulich die Vergänglichkeit des Lebens. Jede Viertelstunde zieht eine Personifikation der vier Lebensalter vor „La Grande Faucheuse“ vorbei.

Und die Kathedrale? Ein französisches oder deutsches Meisterwerk? Goethe schwärmt vom Münster in seinem Buch „Von deutscher Baukunst“. Ganz klar, was unser Johann Wolfgang antworten würde. Aber sicher wäre er kompromissbereit, zumal Institutionen wie etwa das Europäische Parlament oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Straßburg zur heimlichen Hauptstadt Europas machen. Klar ist: Französische und deutsche Einflüsse sind unverkennbar präsent. Die Kunstgeschichte äußert sich diplomatisch, betrachtet das Münster in einem kosmopolitischen Sinn als europäisches Meisterwerk.

Überhaupt verschwimmen die deutsch-französischen Kulturen in der französischen Großstadt in nahezu allen Lebensbereichen. Wagen wir an dieser Stelle einen Blick in die Kochtöpfe. Man hüte sich, die elsässische Küche weder als „typisch deutsch“ noch als „typisch französisch“ zu etikettieren. (Und doch finden sich auf mancher Speisekarte unverzeihliche Ausreißer: So ist es ein Unding, dass ein Restaurant, das sich die „traditionell elsässische Küche“ auf die Fahne schreibt, auf ihrer Speisekarte Currywurst mit Pommes Frites anbietet; überboten wird dieser Fauxpas mit „Fish and Chips“. Ein Frevel, wer es sich bestellt!) Denn die elsässische Küche hat vielseitige Kulinarik zu bieten. Voilâ, da ist der klassische, knusprige Flammkuchen (auf Restauranttafeln in großen Lettern als „Tarte flambée“ ausgewiesen) mit Speck und Zwiebeln auf Crème Fraîche. Gerne werden die Zutaten auch mal variiert. Champignons, Käse und Raukensalat sind in der Flammkuchenküche salonfähig.

IMG_20210922_190907953

Auch Crêpes-Liebhaber*innen kommen auf ihre Kosten. Am besten nach dem Motto: Immer der Nase nach. Der Duft von warmer Butter liegt in der Luft. Mehrere Crêperien servieren die hauchdünnen, aber gehaltvollen Pfannkuchen mit Zucker, Zimt, Bananen, Vanilleeis oder Nutella – auch hier sind Variationen möglich. Wer auf Herzhaftes steht, ist mit anderen Arten von Crêpe gut beraten. Straßburg bietet sie in Fülle, etwa gefüllt mit Spinat und Käse. Eng verwandt damit sind die sogenannten Galetten, die aus Kartoffelteig zubereitet und oft mit Ei oder Speck serviert werden.

Nicht zuletzt bietet die elsässische Küche Fülle an Sauerkrautgerichten, für die die Deutschen vor allem in den USA als „Krauts“ bekannt sind. Sollte sich ein US-amerikanischer Reisender in ein Straßburger Restaurant begeben, könnte er schnell eines Besseren belehrt werden und schlimmstenfalls einen Kulturschock erleiden. Denn das berüchtigte „Choucrout“ wird in sämtlichen Lokalen aufgetischt. Dazu wird nicht nur Kasseler, sondern auch Räucherfisch, Entenschenkel oder Zwiebelkonfitüre gereicht. Ein guter Tropfen Riesling d’Alsace erfreut das Herz jedes Gourmets (Gourmands kommen ebenfalls auf ihre Kosten). À propos Wein: Die guten „Winstuben“ sind insbesondere immer einen Besuch wert, entweder im stilvollen Kellergewölbe mit Kerzenschein oder mitten in einer beschaulichen Gasse unter Laternen.

IMG_20210922_200604702IMG_20210922_200614066

Ein Verdauungsspaziergang ist angesagt. Das Exterieur Straßburgs lädt zum Schlendern geradezu ein. Wenn der Flaneur seine Blicke durch die charmant-rustikalen Gässchen schweifen lässt und hin und wieder nach oben schaut, lässt sich mehr als Geranien und Fachwerk entdecken. Insbesondere die unscheinbaren Sträßchen bieten Überraschendes: Seien es die das Elsass bekannten „Kougelhoupfformen“, die nicht nur im Backofen stehen, sondern die Fassaden vieler Häuser schmücken oder Märchenfiguren, die das Schild eines Geschäfts dekorieren. Die Liebe zum Detail macht die Flanierstunden zu einem wahren Augenschmaus. Und beim nächsten Besuch werde ich dennoch Neues entdecken.