Das orange Quadrat

von Lisa Pilhofer

Es ist ein simples Spiel, das anfangs recht unspektakulär scheint. Es beginnt damit, dass Thomas alleine ist. Thomas ist ein rotes Rechteck in einer zweidimensionalen Welt. Aber Thomas ist nicht einfach nur ein rotes Rechteck, er ist eine künstliche Intelligenz in einem Computersystem, die durch einen Fehler ein Ich-Bewusstsein erlangt hat und jetzt die 2D-Welt erforscht und nach dem Sinn seines Daseins sucht. In jedem Level muss der abenteuerlustige und neugierige Thomas über Hindernisse springen, bis er zu dem Ausgang gelangt, der exakt auf seine Form zugeschnitten ist. Springen ist übrigens die einzige Fähigkeit, die Thomas besitzt. Nach einiger Zeit trifft Thomas auf Chris. Chris ist ein oranges und kleineres Quadrat, das nicht so hoch springen kann wie Thomas und ziemlich mürrisch ist. Später kommt noch John hinzu, ein großes, schmales, gelbes Rechteck, das höher springen kann als Thomas und Chris, worauf es sehr stolz ist. Dann gibt es noch Claire, die liebe dicke Claire, ein großes, breites, blaues Quadrat, das zwar nicht springen, dafür aber als einziges schwimmen kann und die anderen so sicher über das Hindernis Wasser transportiert, wodurch es sich wie ein Superheld fühlt. Und Laura, ein flaches, langes und ängstliches rosa Rechteck, das den anderen als Trampolin dient, damit alle die größeren und weiten Hindernisse überwinden können. Thomas lernt auch noch James kennen, ein grünes Rechteck von derselben Art wie Thomas, das allerdings an der Decke laufen kann, weswegen es gemobbt wurde und sehr einsam ist. Und schließlich die kleine Sarah, ein winziges, eingebildetes violettes Rechteckchen, das Doppelsprünge machen kann. Diese bunten geometrischen Formen helfen sich mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten gegenseitig, die zahlreichen Hürden zu überwinden, wie Wasser, Gräben, Zackenböden oder Hügel, um schließlich die ihrer jeweiligen Form angepassten Ausgänge zu erreichen. Nebenbei gibt es noch eine Pixelwolke, die die Formen nacheinander auffrisst (der Versuch des Computers, den Fehler, der zur Verselbständigung der Formen führte, zu beheben) sowie die gemeinsame Suche nach der „Quelle der Weisheit“ (damit ist tatsächlich das Internet gemeint). Wie gesagt, das Spiel ist recht simpel: Es gibt keine wirklichen Gegner, nicht einmal die Pixelwolke; man spielt einfach Level für Level, die Geschichte und das Ende sind vorgegeben und können nicht verändert werden. Was dieses Spiel so interessnt macht, ist der Umstand, dass alle diese geometrischen Formen irgendwie vermenschlicht wurden: Das Spiel hat einen Erzähler, der mit wunderbar ruhiger Stimme erzählt, wie der neugierige Thomas die Welt erkundet, der mürrische und zynische Chris sich Thomas anschließt, wie der fröhliche John gerne mit seinen hohen Sprüngen angibt, die freundliche Claire alle über Wasser hält, wie die unsichere Laura Angst vor der Pixelwolke hat, wie sich der einsame James über Thomas‘ Freundschaft freut, und wieviel sich die quirlige Sarah auf ihre Doppelsprung-Fähigkeit einbildet. Obwohl es alles nur zweidimensionale Formen sind, die nicht mehr können, als von Rechts nach Links zu rutschen und springen oder schwimmen, und es bloß darum geht, die passenden Ausgänge zu erreichen, schafft es das Spiel mithilfe des Erzählers diese unbedeutenden Formen in eine Gechichte über Selbstfindung, Teamwork und den Wunsch nach Freiheit zu weben. Sobald der Erzähler die Eigenschaften eines Rechtecks bzw. Quadrats beschrieben hat, fängt man als Spieler unwillkürlich an, diese Eigenschaften auch tatsächlich auf die Formen zu projizieren: Thomas war mir unglaublich sympathisch, in Claire sah ich ein liebes, pummeliges Mädchen, das viel mehr kann, als es sich zutraut, und Sarah war für mich eine eingebildete Zicke, die glaubt, sie wäre was Besseres. Es ging sogar soweit, dass ich eine regelrechte Abneigung gegenüber eines bestimmten Quadrats entwickelt habe. Man regt sich ja gerne bei Video- und Computerspielen über irgendetwas auf: über die ungenaue Grafik, die schlechte Steuerung, die wenigen Punkte, die man sammelt, den schwierigen Endgegner. Hier ist es Chris. Chris, das kleine orange Quadrat, das nicht sehr hoch springen kann, hat mich in den Wahnsinn getrieben. Es war nicht Chris‘ Eigenschaft, dass er als mürrisch und zynisch beschrieben wurde, die ihn mir so unsympathisch machte. Es war die Tatsache, dass Chris einfach nichts kann und nichts macht! Chris ist der unnütze Klotz am Bein, den man mitschleppen muss. Chris ist derjenige in der Gruppe, der zu allem sein Kommentar abgibt, aber selbst nicht einen Finger rührt. Chris ist derjenige, der mit seiner Inkompetenz den ganzen Betrieb aufhält. Chris ist das Gruppenmitglied, dem am meisten geholfen werden muss und der nichts alleine schafft – und dem das auch noch egal ist! Wegen Chris musste ich, nachdem ich alle anderen schon an ihrem Ausgang hatte, nochmal mit allen Rechtecken zurückgehen, um Chris zu seinem Ausgang zu helfen, weil er das alleine nicht schaffen konnte. Wegen Chris musste ich mehrmals hin und her rutschen und springen, bis er aufholen konnte. Wegen Chris dauerte so ein Level mal mindestens 3x so lange wie nötig. Chris, das kleine orange Quadrat, das nicht sehr hoch springen kann, brachte mich zur Weißglut. Hier war kein Bösewicht mit einem perfiden Plan, die Weltherrschaft an sich zu reißen oder so viele Leute wie möglich einfach abzumurksen, gegen den man verständlicherweise tiefen Hass empfinden konnte, mit der Entschlossenheit, ihm das Handwerk zu legen. Hier gab es keinen Multiplayer, bei dem man zufällig mit anderen Spielern zusammengewürfelt wird und wo es noch irgendwie nachvollziehbar ist, wenn man sich über einen unfähigen, unverschämten oder schlicht dämlichen Mitspieler aufregt, der sein Team ins Verderben stürzt. Es gab nicht einmal dramatische Tode zu verschmerzen. Nein, hier gab es nur Chris. Chris, das kleine orange Quadrat, das nicht sehr hoch springen kann, machte mich wütender als jeder andere Spielcharakter, der mir je im Weg stand, mich erschlug, erschoss oder sonstwie abmurkste. Dabei ist Chris kein Monster. Chris ist ein verdammtes oranges Quadrat. Ein kleines, oranges, unfreundliches, dreckiges, faules, unnützes, nerviges, inkompetentes, absolut bescheuertes Quadrat.

(Wen das Spiel interessiert: Es heißt Thomas was alone und ist bei Steam zu finden.)