von Lisa Pilhofer
Im Allgemeinen bin ich kein besonders risikofreudiges Kind gewesen und meine Bereitschaft zu Unternehmungen, bei denen meine Kleidung arg in Mitleidenschaft gezogen werden könnte, verringerte sich mit zunehmendem Alter. Dennoch kann ich mich erinnern, dass ich mich bis zur siebten Klasse – wo das Aussehen plötzlich von Bedeutung war – nicht wirklich darum gekümmert habe, was ich anziehe, ob mein ‚Outfit‘ zusammenpasst und welche Aktionen ich darin besser nicht ausführen sollte. Ich kroch durch Erde und Gras, blieb an Büschen hängen, stolperte, wurde im Spiel am Hemd gezogen, beim Malen tropfte Farbe auf die Kleidung, ich rannte, bis die Füße qualmten und hatte die Taschen voller Kleinigkeiten, die ich im Laufe des Tages eingesammelt hatte. All das hinterließ Spuren, an denen man mehr oder weniger nachvollziehen konnte, welche Abenteuer hinter mir lagen: Grasflecken auf der Hose, Risse und Farbtupfer im Hemd, das nun leicht ausgeleiert war; Löcher in der Hose, dreckige Schuhe mit abgelatschter Sohle und klebrige Hosentaschen, unter anderem gefüllt mir Kaugummi, kleinen Steinchen, benutztem Papiertaschentuch und damals noch einige 10 Pfennig Münzen oder sogar eine ganze Mark. Die Farb- und Grasflecken gingen beim Waschen nie vollkommen weg, die Risse und Löcher vergrößerten sich mit jedem Waschgang, wenn man versäumt hatte, sich um Reparatur zu kümmern, und bei den Schuhen löste sich die Sohle. Das wurde so lange wiederholt, bis die Kleidungsstücke nur noch als improvisierte Putzlappen genutzt werden konnten, was eine grausame Entdeckung als Kind war, wenn man sein abgetragenes, aber absolutes Lieblings-Hemd nicht mehr im Schrank fand, sondern im Putzeimer neben Allzweckreiniger und Wischmopp. Dabei war dieses Hemd doch der Beweis für all meine Abenteuer! All die Flecken und Risse und Löcher waren hart erarbeitete und verdiente Narben! An ihnen konnte man die Leidenschaft erkennen, mit der ich die Welt entdeckte und die Gefahren, die ich bewältigen musste!
Obwohl die sichtbare und schwer abwaschbare Entdeckungsfreude mit dem Alter abnahm, so zeugen trotzdem auch noch gelegentliche Kaffeeflecken, Farbspritzer, Löcher und Risse in der Kleidung davon, dass man etwas getan hat. Dass man sich einer Herausforderung gestellt hat, dass man etwas geschafft hat, dass man etwas überstanden hat, dass man – so pathetisch es auch klingen mag – lebt. Wenn man sich die heutigen Modetrends so anschaut, scheint es eher zu sein, dass man nur so aussehen will, als würde man etwas tun oder etwas getan haben: Es werden allen Ernstes Hosen mit Löchern und Rissen verkauft. Auf die unverschämten Preise dieser kaputten Kleidungsstücke möchte ich nicht im Detail eingehen, aber sie reichen von ca. 8€ auf Amazon bis zu 50€ bei Zara. 50€ für löchrige Hosen. Jeans in diesem Zustand hat man vor wenigen Jahren entweder verzweifelt versucht, für Kinder mit diversen Flicken zu reparieren, oder man hat sie als Erwachsener schlicht und einfach weggeschmissen. Heutzutage sind löchrige Hosen offenbar in Mode. Aber nicht nur löchrige Hosen, sondern auch Hosen mit sogenannten „Destroy-Effekten“. Dieser Destroy-Effekt macht nichts weiter, als eine komplett neue, bewusst und vorsichtig getragene Jeans auch nach mehreren Waschgängen permanent alt und dreckig und gleichgültig getragen aussehen zu lassen. So, als hätte man mit dieser Hose etwas Draufgängerisches unternommen und sich nebenbei ein bisschen schmutzig gemacht, was einem aber egal ist. Man möchte also, so scheint es, aussehen, als ob man etwas getan hat, ohne es tatsächlich getan haben zu müssen. So zumindest würde ich diesen Trend interpretieren.
Früher demonstrierten löchrige und dreckige Hosen, dass es einem absolut egal war, wie man aussah und was man anhatte, die Sachen waren halt benutzt, na und? Aber es lief auch nicht jeder mit kaputten Klamotten herum, ich wage mal zu behaupten, dass sich die wenigsten mit dieser Ausstattung in die Öffentlichkeit gewagt haben. Heute demonstrieren diese löchrigen und destroyed-gefärbten Hosen meiner Ansicht nach das Gegenteil: Es ist den Leuten eben nicht egal, wie sie aussehen und was sie anhaben. Sie möchten gut aussehen und momentan gelten löchrige Hosen als modern. Natürlich könnte man jetzt sagen, dass es doch schön ist, wenn legere und lädierte Kleidung gesellschaftlich akzeptiert und kein Makel mehr ist. Schließlich soll doch jeder tragen dürfen, was ihm gefällt, nicht wahr? Und trotzdem: Vom Scheitel bis zur Sohle „durchgestyled“ zu sein, am besten noch mit Gucci-Handtasche und Goldschmuck bei den Damen und Sakko und Ledertasche bei den Herren, und dann eine löchrige Hose oder eine mit „Destroy-Effekten“ zu tragen, passt einfach nicht zusammen. Die Narben sind nicht verdient, sie sind erkauft.