Der Morgenmensch

von Marius Albers

„Aussehen wie ein Morgenmensch, auch wenn man es nicht ist“ – mit diesem Slogan wirbt Nivea für das neue Men Sofort-Effekt Gel. Freilich lässt sich über die Wirksamkeit solcher Mittelchen trefflich streiten, überhaupt ist die Kosmetikindustrie sicher ein Feld für allerlei Diskussionswürdiges. Was mir hier jedoch besonders bemerkenswert erscheint ist die Tatsache, dass man überhaupt ein Mittel für den irgendwie absurden Zweck erfindet, wie ein Morgenmensch auszusehen. Denn Menschen sind von Natur aus sehr unterschiedlich was ihre Zeitideale angeht: Frühaufsteher, Morgenmuffel, Langschläfer, Nachtaktive und so weiter. Warum sollte man sich also die Mühe machen, zwanghaft auszusehen wie ein Morgenmensch? 

Klar, es fällt einem schnell etwas ein: Vieles spielt sich früh am Tag ab, besonders wohl Schul- und Arbeitsbeginn. Der gesellschaftliche Takt ist vorgegeben, morgens muss man produktiv sein: Time is Money! Der Zeitforscher Karlheinz Geißler sieht im Uhrzeitgehorsam ein wesentliches Merkmal der Industrialisierung: „Zeitdisziplin, genauer: Uhrzeitdisziplin, galt politisch, ökonomisch aber auch privat als Weg zu mehr Güterwohlstand, höherem Einkommen und rascherem Fortschritt.“ (87) In Institutionen wie der Schule oder dem Militär wurde und wird bis heute genau diese Zeitdisziplin eingetrichtert. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Nivea für all die armen Eulen ein Mittelchen anbietet, dass ihnen helfen soll, sich an das Leben gegen ihre innere Uhr zu gewöhnen. Denn Geißler geht davon aus, dass „der herrschende Güterwohlstand, auf den wir nicht verzichten wollen, ohne solche Erziehungsprogramme nur schwerlich erreichbar gewesen wäre.“(89)

Doch was macht dieser Zwang, gegen die innere Uhr zu leben, mit uns? Folgendes finden wir dazu bei Till Roenneberg: „Ein wichtiger sozialer Zeitgeber für unsere Kinder ist der morgendliche Schulbeginn. Berücksichtigt man die schon in der Kindheit ausgeprägten Chronotypen […], wird verständlich, dass die ‚Eulen‘ unter ihnen, die bei Jugendlichen in der Pubertät aus Entwicklungsgründen überwiegen, Schwierigkeiten haben. Jeden Morgen müssen sie den Tag vor ihrem inneren Morgen beginnen, und sich dennoch den Erfordernissen stellen. Mehrere internationale Studien zeigten, dass schon eine Verschiebung des Schulbeginns um eine halbe Stunde zu weniger Verspätungen, deutlichen Leistungsverbesserungen und zu einer geringeren Krankheitsanfälligkeitführt. Dennoch spielen diese klaren Ergebnisse bei der Gestaltung unseres täglichen Lebens nur eine geringe Rolle.“ (65)

Aber was sind schon internationale Studien und Gesundheitsrisiken, wenn auf der anderen Seite der Güterwohlstand steht, dazu noch Wachstum und Fortschritt, die unbarmherzigen Leitvokabeln des Kapitalismus? Vielleicht hat die Evolution ja bald mal ein Einsehen und lässt nur noch Morgenmenschen überleben. Die müssten sich dann wenigstens keine komische Creme von Nivea ins Gesicht schmieren.

 

P.S.: Zwei kleine Leseempfehlungen zum Thema Zeit. Die Zitatangaben beziehen sich alle auf die Artikel der genannten Autoren in dem aufgeführten Sammelband.

Adam, Barbara (2005): Das Diktat der Uhr. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Gendolla, Peter/Schulte, Dietmar (Hg.) (2012): Was ist die Zeit? München: Fink.

 

P.P.S.: Falls jemand Interesse an der Creme hat, hier der Werbespot: