Der Spatz in der Hand

von Max Fendel

Als Markus S. vor zwei Jahren in die Berghütte seiner Firma eingezogen war, hatte er jeden Spiegel entfernt und jede auch nur minimal spiegelnde Oberfläche abgeklebt. Er rieb die silberne Teekanne mit feuchter Erde ein oder ließ auf den Herd gespritztes Fett eintrocknen, um auch jede mögliche Reflexion zu verhindern. Sein Smartphone und den Fernseher, welcher in der Hütte angeschlossen war, hatte er kurzerhand seinem Fahrer mitgegeben und ihm gesagt, er könne damit machen, was er wolle. Das Handy hatte keinen persönlichen Wert für ihn. Er hatte es noch nie wirklich benutzt, da sein eigentliches Telefon für die Ermittlungen beschlagnahmt worden war. Um jeden Kontakt mit der Außenwelt vermeiden zu können, vereinbarte S. mit dem Fahrer, dass seine Lebensmittelbox jeden Freitag um genau zwölf Uhr dreißig geliefert werden solle. Da die Hütte nur über einen alten Holzofen verfügte, würde er jeden Tag von zwölf bis dreizehn Uhr hinter der Hütte das für ihn bereitgestellte Holz in für die Ofenöffnung passende Stücke schlagen.

Diese Routine gelang nun für über zwei Jahre, bis Markus S. erstmals einen Brief in seinem Vorratskorb beigepackt fand. Seine Firma hatte einen neuen CEO und dieser sah genug Zeit seit dem großen Vorfall vergangen, dass Markus S. seine Arbeit wieder aufnehmen könne. Die SoKo sei mittlerweile auf drei Personen geschrumpft und die Presse habe über unzählige andere Skandale berichtet und das unter dem Verdacht, einen gigantischen Kokainschmuggelring zu betreiben, stehende spanische Königshaus würde den Boulevard für die nächste Zeit mehr als genug beschäftigen. Dass die Zahlen im Hedge-Funding, seit den nun 2 Jahren, mehr als schwächelten, was den Aufsichtsrat erst zum Austausch des alten CEO’S bewegte, spielte sicherlich eine ebenso große Rolle. Er würde in drei Tagen abgeholt werden und nach weiteren fünf Tage wieder im Büro erwartet. Man habe ihm ein neues Loft mitten in der Stadt gemietet und komplett hergerichtet, sodass er nicht in sein altes Haus zurückmüsse. Manche Menschen wären aufgrund solcher Bevormundung vielleicht verstört gewesen, doch S. war wahrscheinlich der treueste Mitarbeiter, den die Wildlyft Bank je hatte.

Also machte er sich daran, alles für seine Rückkehr in die Zivilisation vorzubereiten. Er holte den Badezimmerspiegel unter seinem Bett hervor, wo er seit über zwei Jahren verstaubt lag und brachte ihn wieder über dem Waschbecken an. Er trug Schere, Rasierschaum und -messer, welche seinem Paket beigelegt waren, ins Bad und schaute auf die entstehende Reflexion.

S. erkannte den Mann, den er dort sah, nicht wieder. Er hatte sich seit seinem 19ten Lebensjahr jeden Tag sein Kopfhaar auf exakt vier Millimeter gestutzt. Jetzt hingen lange filzige Haare bis zu seiner Schulter hinab. Auch hatte er in seiner Jugend nur über spärlichen Bartwuchs verfügt und sich später pingelig genau nach Firmenvorschrift jeden Tag ausnahmslos einer kompletten Nassrasur unterzogen. Er hatte sich in den zwei Jahren immer mal wieder blind den Schnurrbart gestutzt und ihm war durch das Ertasten seines Gesichts klargeworden, dass er nun einen Vollbart trug, doch sich so zu sehen, löste in ihm ein befremdliches Gefühl aus.

Er rasierte sich, was ihm deutlich schwerer viel, da er vorher immer nur den Wuchs von einem Tag und nicht von zwei Jahren entfernen musste. Auch seinen Kopf schor er, aus Ermangelung eines Haartrimmers, komplett kahl. Er war froh, dass er sich sofort an die Arbeit gemacht hatte und nicht die fünf Tage bis zu seiner Abreise gewartet hatte. Es fiel ihm überaus schwer und er schnitt sich mehrere Male, sodass er über das ganze Gesicht kleine Toilettenpapierschnipsel verteilte.

Als S. allerdings die Rückreise antrat, hatte sich seine Haut wieder beruhigt und an den Rasierer gewohnt. Es überraschte ihn, dass derselbe Fahrer, welcher ihn schon in die Berge hochgefahren hatte, nun auch wieder abholte. Er fragte sich, ob dieser Mann ihm auch Woche für Woche seine Vorräte vor das Haus gestellt hatte. Doch waren weder S. noch sein Fahrer sonderlich darauf erpicht Konversation zu führen und so bestand die einzige verbale Kommunikation darin, dass S. fragte, wo sie denn hinfuhren. „Zum Schneider. Sie brauchen einen neuen Anzug, wenn Sie am Montag bei Dr. Vestgaard erscheinen. Er bringt Sie dann auch auf den neuesten Stand.“ S. hatte Fragen. Wer war Dr. Vestgaard? Auf dem neuesten Stand bezüglich der Firma oder ging es um seine Frau? Doch war er zu feige, um zu Fragen. So saßen sie die restliche Fahrt schweigend nebeneinander, bis sie nach vierstündiger Fahrt den Schneidersalon erreichten.

Es war schon spät am Abend, als sie hielten und vor einem Geschäft mit dem klangvollen Namen HerTailor Marrakesch. „Gehen Sie ruhig rein. Die wissen Bescheid, dass Sie kommen.“, sagte der Fahrer. Im Laden erwartete ihn eine attraktive junge Frau. Sie hatte ozeanblaue Augen und lange, braune gelockte Haare, welche ihr bis zur Hüfte gingen. S. dachte, dass sie sehr wahrscheinlich marokkanische Wurzeln haben müsste und er fühlte sich deutlich von ihr angezogen. Es war alles schon vorbereitet und nachdem die Frau S. vermessen hatte. „Den Anzug kannst du am Montag um acht Uhr abholen. Dein Termin mit Dr. Vestgaard ist ja erst zwei Stunden später.“, erklärte sie. Er fragte sich, woher die Frau das wusste, doch unterbrach sie ihn schon zu Beginn seiner Frage und sagte „Ich hol dir noch eine Hose aus dem Lager. Eine Khakichino würde passen. Passt gut zu dem Holzfällerhemd“. Wenig später tauchte sie mit einer perfekt sitzenden, sich äußerst wertig anfühlenden Chinohose wieder auf. „Los zieh sie an und dann raus hier. Wildlyft hat alles schon bezahlt und ich will heute Abend noch ausgehen“ und mit einem Zwinkern verschwand sie wieder. Also zog er sich seine neue Hose an und ging zurück zum Wagen. Sein Fahrer wartete an den Kotflügel gelehnt und rauchte eine Zigarette. Es lagen ca. 20 Kippenstummel vor ihm auf dem Pflaster. S. hatte also deutlich mehr Zeit in dem Laden verbracht oder der Mann war starker Kettenraucher. Es wunderte ihn, denn als er am Morgen in den Wagen gestiegen war, hatte er nicht den typisch säuerlich, rauchigen Geruch eines Rauchers wahrgenommen. Vielleicht war es ihm nach der langen Zeit nur nicht aufgefallen, doch als die beiden wieder in den Wagen einstiegen, stach ihm das Aroma sofort in die Nase.

Nach ein paar Minuten hielt der Wagen an einer Tankstelle. „Können Sie das Bezahlen übernehmen? Und mir vielleicht eine Schachtel Marlboro Gold mitbringen?“ fragte ihn der Fahrer und drückte S., um die Frage gleich zu beantworten, eine Geldklammer mit mehreren Hundert Euro Scheinen in die Hand. „Können Sie dann behalten. Gehört sowieso ihnen.“.

Als S. die Klammer nach dem bezahlen in seine Hosentasche steckte, fiel ihm auf, dass sich in der Hose ein Streichholzbriefchen befand. Es bewarb in auffälligem Artwork, im Stil der 50er Jahre in den USA, eine Bar, die H.B. Luce in der Luisenstraße, von der S. noch nie gehört hatte. Sie musste in den letzten zwei Jahren erst entstanden sein. S. kannte die Luisenstraße für gewöhnlich auswendig. Es hatte als Scherz begonnen, dass er seine Frau, die auch Luise geheißen hatte, in die Burgeschmiede Bricks eingeladen hatte und endete darin, dass sie als Paar jede Woche mindestens einmal die komplette Straße entlang flanierten, was insofern außergewöhnlich war, dass das Viertel nicht für seine wohlhabenden Bewohner bekannt war. Obwohl ihn diese plötzliche Erinnerung einen überraschenden Schmerz versetzte, verspürte S. das Verlangen diese Bar zu besuchen.

Der Fahrer hatte zwar ebenfalls noch nie von einer Bar mit dem Namen H.B. Luce gehört, doch tippte er die Adresse in sein Handy und folgte den Anweisungen des Navigationssytems. An der Kreuzung Luisenstraße/Grundmanweg ließ sich S. absetzten, er wollte die letzten Meter lieber zu Fuß gehen. S. dankte dem Fahrer, welcher sich wortlos mit nur einem Nicken verabschiedete.

Die Kneipe sah von außen gänzlich anders aus als sich S. sie vorgestellt hatte. Anstatt den Charme eines Diners aus den 50er Jahren oder einer amerikanischen Sportsbar, war die H.B. Luce eine klassische Deutsche Arbeiterkneipe. Durch die typischen braunen Flaschenbodenfenster drang schwaches Licht auf die ansonsten tot wirkende Straße. Noch bevor er die Zwischentür öffnete, drang ihm erneut der Gestank von kaltem Zigarettenrauch in die Nase. Der Schankraum war fast leer. In der hintersten Ecke saß ein riesiger ausgestopfter Braunbär. Jemand hatte ihm eine große goldene Panzerkette um den Hals gelegt, eine Sonnenbrille aufgesetzt und ein halb volles Bierglas vor ihn abgestellt, sodass der Eindruck entstand, es handele sich um einen regulären Gast. Der Barkeeper war ein langhaariger, vollbärtiger Mittvierziger, der damit beschäftigt war, die riesige Schallplattensammlung, welche hinter der Bar, wo normalerweise der hochprozentigere Alkohol zur Schau gestellt wurde, zu durchsuchen. An der Bar saß jedoch ein Gast. Zu seiner Freude war es die hübsche Marokkanerin. Sie hatte sich ein schwarzes, bis zum Hals geschlossenes Abendkleid angezogen.

Sie winkte ihn herbei und lächelte ihm ermutigend zu. „Willst du eine Zigge rauchen?“, fragte sie.

Ohne seine Antwort abzuwarten griff sie in ihre Handtasche und holte eine komplett schwarze Schachtel hervor. Sie schnipste von unten gegen den Schachtelboden, sodass sich eine, ebenfalls von Filter bis Kopf komplett schwarze Zigarette, griffbereit präsentierte. „Du solltest eine Zigarette rauchen, Markus. Feuer hast du ja selbst, nicht wahr?“, sagte sie, als S. zögerte. Er hatte seit über zehn Jahren nicht mehr geraucht. „Hast du mich hierherlocken wollen? Du hättest mich doch einfach fragen können?“, fragte er und griff nach der Zigarette. „Ja.“, erwidert sie nur kurz. S. spürte, dass das Gespräch ohne Zigarette nicht weitergehen würde. Er kramte das Streichholzbriefchen aus seiner neuen Chinohose und klappte es auf. Es befand sich nur ein Streichholz im Innenteil. Es sah nicht so aus, als seien die anderen schon benutzt worden, denn es fanden sich weder Bruchstellen noch wies die Reibefläche Verschleißspuren auf. Er brach das Streichholz heraus und es entzündete sich augenblicklich, mit einer großen roten Stichflamme. Der Barkeeper hatten offensichtlich die gesuchte Platte gefunden und in ungehöriger Lautstärke ertönte ein krächzender Gesang „You’re the head on the spear. You’re the nail on the cross“. Irgendwoher kannte er diesen Song, doch konnte er ihn in diesem Moment nicht zuordnen. Mit dem ersten Zug der Zigarette wurde S. schwindelig und sein ganzer Körper begann zu kribbeln. Als er die Zigarette in den beistehenden Aschenbecher ablegte, kam sie ihm ungewöhnlich feminin und doch äußerst vertraut vor. Sie begann zu bluten und zu faulen, bis sich schließlich eine dicke Schlammschicht um sie herumbildete. Die Stimme sang „No good you say. Well that’s good enough for me“.