Ein Klassiker neu betrachtet: „Der Graf von Monte Christo“ von Alexandre Dumas

Eine Rezension von Lutz Dehenn

Im Jahr 1815 steht der einfache Seemann Edmond Dantés nicht nur kurz vor seiner  Beförderung zum Kapitän, sondern auch vor der Vermählung mit seiner Geliebten. Doch das bevorstehende Glück wird am Altar zu Nichte gemacht: Auf Grund einer Verschwörung aus Habgier und Eifersucht – der eine trachtet nach Edmonds Karriere, der Andere nach seiner Frau – wird er unschuldig in den Kerker geworfen. Hier verbringt er 16 Jahre seines Lebens. Doch bevor ihm nach dieser schier unendlichen Zeitspanne die Flucht gelingt schließt er eine innige Freundschaft mit seinem Zellennachbar. Der Hauptprotagonist erhält durch jenen nicht nur ein beachtliches Maß an Bildung in Fremdsprachen, Naturwissenschaften, Medizin und Philosophie, sondern verfügt zum Zeitpunkt seiner Flucht auch über das Wissen von einem Schatz von unermesslichen Reichtümern auf der Insel Monte Christo. Den Schatz geborgen lässt sich Edmond satte 9 Jahre Zeit um seinen Rachefeldzug zu planen, der ihn in die Gefilde des Pariser Adels führen wird, wo sich seine Verschwörer inzwischen ein anschauliches Leben durch tückische und unmoralische Methoden aufgebaut haben. Mittels unerschöpflichen Reichtums, universalgelehrter Bildung, in Haft erlernter unerschütterlicher Geduld und einem lang gereiften Plan trachtet der selbst ernannte Graf von Monte Christo nun nach Genugtuung.

Der Abenteuerroman weiß nicht zuletzt durch seine spannende Geschichte zu fesseln;  vor Allem durch seine narrative Gewandtheit  werden Leser*innen anhand eines gehobenen und reizenden sprachlichen Duktus verführt: Durch die wechselnde Fokalisierung der Pro- und Antagonisten gelingt es, die Wandlung vom proletarischen, einfachen Seemann hin zum bourgeois anmutenden, würdevoll erhabenen  Grafen durch deren Sichtweise immanent darzustellen. Die durchweg extradiegetische Erzählweise lässt die sehr wenigen Passagen, in denen die Erzählende Stimme selbst kurz zu Wort kommt und die Lesenden adressiert sehr kunstvoll, gut durchdacht und unterhaltsam wirken. Einige nicht unwesentliche Leerstellen tragen zur Entfaltung des Mythos um den geheimnisvollen Graf von Monte Christo anhand der geforderten Fantasie der Rezipienten verstärkt bei und bilden tragende Romanelemente.

Narratologisch hochinteressant werden außerdem gesellschaftliche Themen verhandelt, die ihre Aktualität noch nicht eingebüßt haben. So stellt sich die Fragen nach Aufstiegsmöglichkeiten in höhere soziale Klassen und ihre mögliche Durchsetzung durch die Widersacher Edmonds. Wenn man bedenkt, dass unser besprochener Titel zwischen 1844 und 1846 als recht zeitgenössischer Fortsetzungsroman erschien und das „Manifest der Kommunistischen Partei“  mit seinen kulturwissenschaftlichen Thesen 1848 erstmals durch Europa ging, kommt man nicht umher eine kritische Lesart in Bezug auf Klassenunterschiede und damit einhergehende Problematiken einzunehmen, da diese der Histoire inhärent sind. Ungeachtet der soziopolitischen Ebene eröffnen sich zusätzlich ethische Fragestellungen: Wie weit rechtfertig der Durst nach Rache das Kompromittieren der Schuldigen und wo sollten Grenzen gezogen werden, vor Allem wenn die Folgen der geforderten Genugtuung etwa das Leben unschuldiger Angehöriger der Betroffenen zum Negativen modellieren? Was ist von einem Wertekatalog zu halten, vor dessen Hintergrund dem Richter sein Ansehen und seine Karriere wichtiger ist, als das korrekte Durchsetzen des Gesetzes, und dem Bänker sein Vermögen lieber zu sein scheint, als eine glückliche Beziehung zu seiner Frau?

Als Taschenbuch circa 1.500 Seiten umfassend hat Alexandre Dumas mit „Der Graf von Monte Christo“ ein empfehlenswertes, literarisches Werk geschaffen, das für Leserschafften mit verschiedenen Geschmäckern und Leseintentionen geeignet ist und sich für seine Länge dank eines hohen Maßes an Ergiebigkeit sehr stolz präsentieren darf.