Fortsetzungsroman

Kapitel 6

von Michael Fassel

Ernestos linke Wange pochte so stark, als hätte ihm jemand sein Herz dorthin verpflanzt. Er zitterte, konnte seinen Atem sehen. Erst nachdem er mehrmals seine Augen zusammengekniffen hatte, sah er ein aufgeschnittenes Schwein, das von der Decke baumelte. Die Ohren und die Schnauze waren von Frost befallen. Von den ihm umgebenden Eisbehältern in den zwei Meter hohen Regalen stieg weißer Dampf auf.Ernesto versuchte seine Ärmel über seine frierenden Handgelenke zu ziehen, aber sie waren zu kurz. Langsam richtete er sich auf, indem er sich an einem Regal hochzog. Er taumelte zum halben Schwein und hoffte, dass es noch etwas warmes Blut in sich hatte. Doch auch das war gefroren, die künftigen Schnitzel waren steinhart. Ich werde die alle feuern! Sein Magen grummelte, er spürte einen unangenehmen Druck. Aber hier war weder eine Toilette noch Kräuterschnaps…
Er schlug gegen die Tür. Nichts rührte sich. Vorsichtig legte Ernesto sein Ohr an die Tür und hörte die vertrauten Stimmen von Klara, Lea und Pascal. Es war ein Gelächter, aber er erkannte sie genau. Mit den Fingern strich über seinen Schnurrbart, an dem sich bereits Eisperlen gebildet hatten. Ruhe bewahren… Er atmete tief ein, bis ihn ein brennender Schmerz im Rücken überkam. Der Korkenzieher hatte offenbar seine Lunge durchbohrt. Das Blut, das er schmeckte, schien nicht von dem heftigen Schlag in sein Gesicht, sondern von der Verletzung des Organs herzurühren.
Er sah sich um, suchte nach Wegen, wie er die verschlossene Tür gewaltsam öffnen konnte. Wieder stieg ein Schwall Blut seine Kehle hinauf in den Mund. Der Geschmack machte ihn panisch, so dass er zitternd eine Dose Cookies-Eis öffnete und mit beiden Händen die tiefgefrorene Crememasse herauskratzte. Geschmack empfand er nicht, dazu war das Eis so kalt, dass es auf der Zunge brannte.
„Chef?“ Er hörte Pascals Stimme. Der Azubi streckte seinen Kopf durch die schwere Tür. Im ersten Moment glaubte Ernesto zu halluzinieren.
„Murks ihn ab!“, hörte Ernesto auf einmal Klaras Stimme. Tatsächlich hatte Pascal ein Messer und einen Korkenzieher dabei. Er trug schwarze Lederhandschuhe.
„D-du wa-wagst es nicht“, stammelte Ernesto vor Kälte zitternd. Oder hatte er jetzt doch Angst vor ihm? Pascal kam tatsächlich einen Schritt näher und stand schließlich mitten im Kühlraum. Unbewusst trat Ernesto ein paar Schritte zurück, die Eisbox zu seiner Verteidigung vor sich haltend. Er wusste, dass er lächerlich aussah.
„M-mir ist es e-gal, dass du was mit Klara hast. G-geht mich auch nichts an…“
„Und warum flirtest du seit Monaten mit ihr? Weil du es weißt?“ Pascal erhob sein Messer.
„Nein… Weil…“ Da wurde Pascal derart heftig von Klara in den Kühlraum geschubst, dass er zu Boden fiel. Sein Messer rutschte passgenau vor Ernestos Schuhe.
„Klara?“, rief Pascal. „Bist du bescheuert?“
„Viel Spaß!“, sagte sie schmunzelnd und schloss die Tür der Kühlkammer.
„Jetzt sind wir sie los!“ Lea und Klara lachten so laut, dass es das Anspringen des Kühlgenerators übertönte. Pascal hämmerte gegen die Tür, rief immerzu nach Klara, versprach ihr, sie zu heiraten und dann in die Endivien zu reisen.
„Malediven heißt das“, bemerkte Ernesto trocken und triumphierte ein letztes Mal in seinem Leben, als er das Messer aufhob.