Hilfe, die Leinwand hat einen Puls!

 von Bettina Fischer

Man sieht sie überall. Klein oder groß, schwarz oder bunt, schön oder hässlich, aber oftmals mit Stolz zur Schau getragen. Der Mensch hat sich vom Puristen, der seine Haut lieber nackt genießt, zum Kunstliebhaber am eigenen Leib entwickelt.

Ein dunkler Raum, der mit roten und schwarzen Sofas ausgestattet ist, der Zwielichtigkeit ausstrahlt und keinen Platz für Angsthasen bietet. Ein finsterer, knurriger Tätowierer, der einen mit barscher Stimme anspricht und aussieht, als hätte er ein paar Jahre im Knast gesessen. Das laute Surren der Nadel, die verzweifelten Schmerzensschreie eines Menschen, der für den farbigen Permanent-Schmuck an die Grenzen seiner körperlichen und mentalen Belastbarkeit geht. Diese klischeehaften Gedanken kommen vielen Menschen bei dem Thema Tätowierungen als erstes in den Sinn.

Aber entspricht dies wirklich der Realität? Und welcher Menschenschlag setzt sich freiwillig dieser Tortur aus?

Das will ich selbst herausfinden und mache mich auf den Weg zu dem Tattoostudio „Im Nadelwald“ in Siegburg. In dem Moment, als ich eintrete, schlägt mir der Geruch von Desinfektionsmittel entgegen, aber ich höre keine Schmerzensschreie. Eine fröhliche Frauenstimme ruft mir ein: „Hallo, ich bin gleich bei dir“, aus dem angrenzenden Raum zu. Ich bin erleichtert.

Das Studio ist recht klein und besteht aus einem Eingangsbereich, der durch eine Theke von einem größeren Raum abgetrennt ist. Ein luftiger, schwarz-weiß gemusterter Vorhang dient zusätzlich als Raumtrenner und bietet dem wagemutigen Tattooliebhaber Privatsphäre, während das Kunstwerk in die Haut gebracht wird. Der Eingangsbereich ist hell und einladend eingerichtet. Die Wände sind weiß gestrichen, die Sofas in verschiedenen beigetönen gehalten. Ein paar Bilder von gestochenen Motiven hängen an den Wänden.

Die Stimme gehört zu Anna, 33 Jahre alt. Sie hat eine offene und herzliche Ausstrahlung. Ihren Rücken ziert ein Totenkopfschwärmer, sie hat mehrere kleine Ohrpiercings. Ein Iro auf dem Kopf komplettiert ihren Style. Sie ist die Inhaberin und einzige Tätowiererin in diesem Studio. Anna erklärt mir, dass es noch nicht lange Gang und Gäbe ist, dass Tatts nach den individuellen Wünschen und mit dem Kunden zusammen entworfen werden: „Vor 30 oder 40 Jahren war es so, dass man in ein Studio ging, auf ein Motiv zeigte und die Stelle nannte, an der es gestochen werden sollte. Ein Mitspracherecht an der Gestaltung hatte man nicht“. Also war mein Bild von dem übellaunigen Tätowierer gar nicht so falsch, sondern nur veraltet, denke ich mir. Weiterhin erzählt Anna: „Die Wende brachte Ed Hardy in den 70ern, ein Tattookünstler aus den USA. Hardy ging als Erster direkt auf die Wünsche des Kunden ein und entwickelte zusammen mit dem Kunden das Motiv. Das war damals was völlig Neues!“.

 

Soweit die Historie, aber ich möchte auch etwas über Situationen aus dem Alltag eines Tätowierers erfahren und frage Anna nach ihrem Klientel: „Es lassen sich alle möglichen Leute stechen. Jung, alt, durch alle Schichten durch. Es ist ja auch mittlerweile Mode geworden. Wenn irgendein Star ein neues Motiv hat, weiß ich genau, was ich in der nächsten Zeit, vor allem bei jungen Mädels so um die 18 oder 19, stechen werde. Unendlichkeitszeichen und kleine Schriftzüge wie Love oder Life, hinterm Ohr sind im Moment auch sehr gefragt. Gerade wenn die so jung sind, frage ich immer zweimal nach, ob sie sich das auch gut überlegt haben.“ Sie schüttelt den Kopf und sagt resigniert: „Wenn sie meinen…, Ich weiß genau, zu 90 % werden sie es bereuen, aber ich muss auch Geld verdienen, also kriegen sie was sie wollen. Aber Minderjährige, egal ob sie mit ihren Eltern kommen oder nicht, stech‘ ich nicht. Da hab ich meine Prinzipien. Fingertattoos, bestimmte politische Symbole und Partnertattoos gehen auch gar nich‘. Da weigere ich mich einfach, Geld hin oder her.“

Schön und gruselig zugleich

Lena ist eine aufgeschlossene Frau, Mitte dreißig. Sie hat einen Sohn, Noah, acht Jahre alt. Ihren Körper zieren schon kleine Tätowierungen, wie einen Schmetterling auf der Schulter, einen Anker auf dem Fuß sowie einen Cup-Cake auf dem rechten Oberarm. Nun möchte sie mit Anna das nächste Motiv besprechen. Währenddessen verrät mir der Kleine, dass er die Bildchen auf Mamas Haut schön findet. Er zeigt mir stolz das Abziehbildchen-Tattoo auf seiner Hand, grinst schelmisch und sagt: „Aber das is‘ nich‘ echt. Die von Mama schon, die geh‘n auch mit Rubbeln nich‘ weg!“. Dann sieht er auf dem Tisch das Cover einer einschlägigen Zeitschrift, auf dem eine Horrormaske auf einem Arm abgebildet ist. „Aber bei dem da krieg ich Angst!“. Lena streicht ihm über den Kopf und erzählt mir, dass er kürzlich im Bus Angst vor einem Mann hatte, der ein Horrormotiv auf dem einen und eine riesige Spinne auf dem anderen Arm tätowiert hatte. „Ich habe ihn gebeten die Ärmel von seinem Hemd runter zu ziehen aber ihm war egal, dass mein Sohn Angst hatte und weinte. Da sagt der tatsächlich zu mir, dass sich der Kleine nicht so anstellen solle, er lasse sich in seiner persönlichen Freiheit nicht einschränken. Für solche Menschen habe ich kein Verständnis!“, empört sie sich und legt den Arm um Noah, als müsste sie ihn immer noch vor dem gruseligen Anblick schützen. „Er ist doch ein kleiner Junge und kein Erwachsener, der sich gestört fühlt, weil er mit dem Motiv nix anfangen kann“. Ihr Gesichtsausdruck zeigt eine Mischung aus Wut und Fassungslosigkeit, als sie darüber spricht.

 

Schattenseiten

 

Markus ist 40 Jahre alt, hat das Aussehen eines gestandenen Mannes, der in seinem Leben schon ein paar Krisen meistern musste. Er ist Installateur, verheiratet und hat zwei Kinder. Ein großes Tribal ziert seinen rechten Oberarm, welches er mit einem neuen Motiv abdecken, covern, möchte. „Eine Jugendsünde!“, sagt er und zuckt mit den Schultern. „Wann hab ich mir das machen lassen? Ich glaub so mit 20. Ich wollte unbedingt eins haben, weil´s cool war und meine Kumpels auch eins hatten. Ich hatte nicht viel Geld und hab mir auch null Gedanken gemacht. Wie man halt so in dem Alter is‘. Der Typ konnte nix, aber war billig. Jetzt sieht´s scheiße aus. Total vernarbt, die Farbe ist schon an ein paar Stellen raus“. Ich frage ihn, warum er es sich nicht weglasern lässt.

Er schaut mich verständnislos an und sagt: „Na weil‘s zu mir gehört!? So ätzend es auch aussieht, es is‘ halt ´n Teil von mir. Nee, wegmachen lass ich´s nich‘! Da soll jetzt ein Drache draus werden! Ich war jetzt schon in ein paar Studios, den Fehler zu irgendwem zu gehen, mache ich nicht nochmal. Anna hat den Zuschlag bekommen“, sagt er grinsend. „Die zeichnet und sticht mir den Drachen genau so, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Der Laden ist sauber, die Geräte auch und die Sachen von Anna sind super“. Anna und Markus tauschen einen kurzen Blick, der ein gegenseitiges Einverständnis und Vertrauen ausdrückt. Dann wird sein Gesicht wieder ernst. „Oh Mann, was da damals hätte passieren können, ne Entzündung und Krankheiten hätte ich mir holen können. So sauber sahen der Laden und der Typ echt nich‘ aus. Aber ist ja gut gegangen“. Die Erleichterung darüber, dass er sich bei seiner ersten Tattooerfahrung nicht mit einer Krankheit wie Hepatitis oder HIV infiziert hat, ist ihm deutlich anzusehen.

Anna verdreht die Augen und sagt, „Jaa, darauf muss man heut auch immer noch sehr achten. Es gibt immer wieder Kollegen, die´s mit der Hygiene nich‘ so genau nehmen. Es gibt leider keine einheitliche Hygieneverordnung für Tattoostudios“, erzählt Anna weiter, „und wenn dann mal ein Kontrolleur vom Gesundheitsamt kommt, weiß er nich‘, worauf er achten muss. Es ist unfassbar, dass das nirgendwo geregelt is‘, wir nehmen immerhin einen Eingriff in die menschlichen Haut vor!“.

 

Markus berichtet mir von einer Freundin, Betty, die sich ebenfalls tätowieren ließ und auf eine Farbe allergisch reagierte. „Das ist irre angeschwollen. Betty musste es von einem Hautarzt behandeln lassen“. Der Hautarzt erwies sich als fachkundig und konnte die Allergie durch die Behandlung mit einer speziellen Salbe beseitigen. Die Tätowierung wäre dadurch nicht beschädigt worden, andere Spätfolgen, wie eine Vernarbung des Tatts oder weiße Flecken im Bild seien dadurch ebenfalls nicht aufgetreten, berichtet Markus weiter. „Viele Hautärzte kennen sich nicht mit möglichen Reaktionen auf die Farben aus,“ sagt Anna, „das kann richtig übel werden. Ein super gestochenes Motiv kann durch die falsche Behandlung zu einem großen unschönen Farbfleck auf der Haut werden. Wenn man eine empfindliche Haut hat sollten Unverträglichkeiten auf Tattoofarben auf jeden Fall vorher durch einen Dermatologen abgeklärt werden“.

 

Schick oder Stigmata

 

Marianne Müller, genannt Mienchen, 70 Jahre alt, treffe ich zufällig vor dem Studio, als sie verstohlen durch das Schaufenster schaut und frage sie nach ihrer Meinung: „Ne, ne, ne“, sagt sie und schüttelt heftig den Kopf, „die ganzen angemalten jungen Leute sind mir suspekt. Wenn Gott gewollt hätte, dass wir bunt sind, dann wären wir auch so auf die Welt gekommen. Das ist doch nicht schön und es werden immer mehr. Gott sei Dank, halten meine Kinder auch nichts davon “. Mienchen beobachtet diese Entwicklung mit Besorgnis.

 

Frank ist 26 Jahre alt, Student der Psychologie und ein bekennender Tattoofan. Er ist für einen kurzen Plausch mit Anna im Studio vorbei gekommen. Seine Haut zieren verschiedene Tätowierungen. Die Motive verteilen sich alle nur auf dem Rücken. Er hat ein Tribal auf der rechten Schulter und die Silhouette eines Pin-up Girls aus den 50er Jahren auf der linken sowie einen Salamander, der von der rechten unteren Seite bis auf die Mitte des Rückens reicht. Er sagt, dass er bewusst Stellen gewählt habe, die er später leicht verdecken könne, da er vermeiden möchte, dass ihm berufliche Nachteile aus seiner Leidenschaft entstehen. „Gott sei Dank war ich so clever, vorher drüber nachzudenken“, sagt er mit einem Grinsen. Auf die Frage, warum er nur den Rücken und nicht auch die Brust oder den Bauch dekoriert hat, sagt er: „Dann muss ich sie nicht immer sehen. Es dauert länger, bis ich mich an ihnen satt gesehen habe und wenn mir ein Motiv nicht mehr gefällt, habe ich die Wahl, ob ich es mir anschaue, oder nicht. Außerdem hoffe ich, dass die Haut am Rücken nicht so sehr hängt, wenn man alt ist.“ Frank ist ein sportlicher Typ, der gerne schwimmt. Die Öffentlichkeit sieht demnach seine Tatts, aber einen richtig miesen Kommentar habe er noch nie bekommen. Höchstens mal ein – Hey, das Tattoo sieht super aus, aber das andere ist echt nicht mein Fall – aber damit könne er gut umgehen, da er sich den Permanentschmuck nur für sich selbst habe anlegen lassen und da sei auch noch kein Ende in Sicht. Seine Augen strahlen, als er dies sagt, aber auf die Frage, was er mache, wenn sein Rücken keinen Platz für weitere Verzierungen mehr biete, antwortet er: „Dann hör ich auf“. Als er dies sagt, verrät sein Gesichtsausdruck, dass er seinen Worten selbst nicht recht traut. Ich lasse das Thema ruhen und frage ihn stattdessen, warum er gerade diese Motive gewählt hat: „Weil sie mir gefallen! Ich halte nichts davon persönliche Erfahrungen auf der Haut zu verewigen, um sie zu verarbeiten“.

 

Auch auf offizieller Ebene ist die Akzeptanz von Tätowierungen gestiegen. Einem Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen zufolge, darf das Land Nordrhein-Westfalen die Bewerbung für eine Tätigkeit im Polizeidienst nicht auf Grund von großflächigen Tattoos ablehnen. Das Argument, die Neutralität eines Polizisten sei durch die sichtbaren Tatts nicht mehr gewährleistet, entkräftete der Vorsitzende Richter, indem er auf die Wahrung der Grundrechte verwies. Die Liebe zur Kunst am eigenen Leib ist nun auch im Staatsdienst in Nordrhein-Westfalen erlaubt.

 

Anna ist froh über diese gesellschaftliche Entwicklung. Sie kann sich nicht über zu wenig Arbeit beklagen. „Aber wenn ich in einer Woche das fünfte Unendlichkeitszeichen stechen muss, würde ich am liebsten schreien. Eins ist sicher, die Altersheime werden über die Jahre immer bunter, sagt sie, zwinkert mir zu und setzt die Nadel wieder an.