Kigoma – Mpulungu

von Sebastian Wilhelm

Stellt euch mal Folgendes vor.

Dieses Wochenende wollt ihr mal wieder nach langer Zeit einen entfernten Freund besuchen. Ihr habt ihn wirklich lange nicht mehr gesehen, doch dieses Mal habt ihr nach Dekaden endlich mal ein wenig mehr Zeit. Das Problem war immer die Distanz. In Zeiten, in denen jeder von uns durch Beruf, Studium oder persönlichen Zielen seinen eigenen Weg gehen muss, sind entstehende Distanzen keine Seltenheit – ich denke, diese Erfahrung kennt jeder.

Euch und euren Freund trennt eine Distanz, von sagen wir mal pi mal Daumen 550 Kilometern. In Luftlinien betrachtet, würde dies der Strecke Köln-Bremen entsprechen, – mit dem ICE eine Strecke, die innerhalb von nur drei Stunden zurückgelegt werden kann.

Mit einem guten Buch vergeht solch eine Zeit wie im Flug.

Ihr steht am Bahnhof. Plötzlich hallt eine Durchsage über das weite Bahngleis:

Da das Glück euch in letzter Zeit nicht bekommt, fällt der Zug auf einmal ohne Vorwarnung aus. Mal wieder die üblichen Verdächtigen: Bahnstreik, technische Probleme am Zug, Personen im Gleis, Schienenersatzverkehr – sucht euch was aus.

Natürlich seid ihr wütend. Schreibt eurem Freund via Whatsapp eine kurze Entschuldigung, dass es dieses Mal auch nichts wird und ihr euch meldet, wenn wieder ein Wochenende mit mehr Zeit anrückt, – natürlich wisst ihr, dass das wieder Monate dauern könnte.

Ein Erlebnis, von denen die Menschen in Kigoma und Mpulungu euch ein Lied singen könnten. Wie bitte – denkt ihr jetzt- wer oder was ist Kigoma oder Mpulungu, und wie kommen wir nun auf einmal da drauf.

Bevor ich mich in Erklärungsnöte verliere, fange ich besser an, die Sache aufzuklären.

Mpulungu und Kigoma sind zwei Hafenstädte in Tansania, die am Tanganjikasee liegen, ein See, der in der Breite betrachtet, Rekorde aufstellt:

Mit einer Länge von 673 km erreicht der See eine Größendimension, um in Deutschland das Dreiländereck bei Aachen mit der Stadt Dresden am anderen Ende des Landes verbinden zu können. Der See ist noch in anderen Bereichen ein Superlativ. So ist der Tanganjikasee mit einer Durchschnittstiefe von 570 km der zweittiefste See unseres Planeten (tiefste Stelle liegt bei 1470m).

Als artenreichster See der Welt steht er bei Biologen besonders hoch im Kurs, da 95 % der Fischarten (vor allem die Buntbarsche) hier Endemiten, d.h. nur hier anzutreffen sind, und als Modellfische für die Evolution in der jüngsten Forschung eine besondere Aufmerksamkeit bekommen.

Aber auch die Armut ist, wenn wir schon in solchen Größenordnungen und -vergleichen sprechen, in negativer Hinsicht erschreckend: Tansania, einer der vier Länder, denen der Tanganjikasee als natürliche Grenze dient, gilt als einer der ärmsten Länder der Welt. In diesem Land, wohlgemerkt dreimal größer als Deutschland, leben 95 % der Menschen nicht nur in akuter Armut, sondern hier leiden auch täglich Millionen unter den Folgen von Epidemien, HIV, schlechten medizinischen Bedingungen und chronischer Unterernährung.

Der See ist für alle Menschen in seinem Umland von fundamentaler Bedeutung, da sie von ihm leben. Und die einzige Verbindung zwischen getrennten Familien, Freunden und Liebsten, ist ein einziges Schiff. Ein Schiff, das für die Menschen am See so etwas, wie die einzige Lebensader darstellt, da es die weit entfernten Dorfgemeinschaften über den Seeweg verbindet und gleichzeitig als einziges Transportmittel den Güterverkehr aufrecht erhält.

Und es kommt aus Deutschland.

Vor über hundert Jahren, kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges in der Meyer-Werft bei Pappenheim gebaut, steht die Goetzen heute als lebender Zeitzeuge für den imperialistischen Größenwahn der damaligen Zeit. Kaiser Wilhelm ließ das Schiff in seine Einzelteile zerlegen und nach Daressalam, der Hauptstadt der Kolonie Deutsch-Ostafrika (heute die Hauptstadt Tansanias) in über 5000 Holzkisten verschiffen. Von dort aus nahm der in Kisten verpackte Riese seinen Umweg über die Mittellandbahn nach Kigoma, ein Ort, der heute noch der Heimathafen von ihr ist. Im Übrigen stellt die heute noch betriebene Bahnstrecke der ehemaligen Mittellandbahn die einzige Verbindung dar, die Osten und Westen des Landes öffentlich verbindet, und das gerade mal vier Mal die Woche (freitags/dienstags fährt sie nach Kigoma, sonntags/donnerstags fährt sie zurück nach Daressalam.)

Da soll sich einer noch mal beschweren, dass beim Schienenersatzverkehr wochenlang die Zugverbindung Köln-Siegen gekappt wird.

Mit dem Bau des Kanonenboots wollte der Kaiser Präsenz am Tanganjikasee gegenüber den Belgiern und Briten zeigen, denen man über Jahre hinweg auf der anderen Seeseite gegenüber gestanden hatte. Allerdings verzögerte sich der Wiederaufbau des Schiffes so sehr, dass bestimmte Aufbauten wie das 10,5mm–Deckgeschütz nie vollständig fertig gestellt wurde, so dass man dieses während des Krieges durch eine funktionsunfähige Attrappe ersetzte.

Diese erfüllte jedoch ihren Zweck, denn die Briten trauten sich mit ihren beiden kleinen Kanonenbooten mit den sonderbaren Namen HMS Mimi und HMS Toutou nicht mal ansatzweise in die Nähe des deutschen Territoriums, nachdem sie am Horizont zuvor die Silhouette des Kanonenbootes mitsamt seiner Kanonenattrappe ausgemacht hatten.

Das Schiff erlebte zweimal seinen Untergang, einmal kurz vor der Eroberung Kigomas, als es absichtlich von den deutschen Ingenieuren versenkt wurde, und ein weiteres Mal, als es kurz nach seiner Hebung durch einen gewaltigen Sturm erneut bei Lusana kenterte.

Doch jedes Mal erlebte die Goetzen ihre erneute Auferstehung und tourt heute noch am Tanganjikasee zwischen Mpulungu und Kigoma unter ihren neuen Namen Liemba umher und bildet somit für die Menschen eine wichtige Lebens- und Versorgungsader. Nach hundert Jahren, nun sichtlich gealtert, bräuchten Brücke, Maschinenraum und ihr Innenausbau dringend eine Generalüberholung.

Mittlerweile fast ununterbrochen auf Reisen, schleppt sie sich als einziges Passagierschiff über den See und transportiert pro Fahrt bis zu 600 Menschen entlang der östlichen Seeseite (zu Tansania zugehörig). Für ein neues Schiff dieser Größe fehlen die finanziellen Mittel. Aber auch wegen mangelnder Infrastruktur und fehlenden Werftanlagen bei Kigoma würde sich ein Bau direkt vor Ort als erheblich schwierig gestalten.

Die meisten Passagiere fahren dritte Klasse, was so viel bedeutet, dass sie auf oder unter dem Deck schlafen. Insgesamt fährt sie auf dieser Reise 20 Stationen an, wobei nur zwei auf der Westseite des Sees liegen. Die Westseite ist nämlich vom Schiffsverkehr wegen der instabilen politischen Lage des Kongos noch heute fast vollständig abgeschnitten. Eigentlich sollte die Liemba wöchentlich über den Tanganjikasee verkehren, doch häufige Wartungsarbeiten und Reparaturen führten dazu, dass sie im Schnitt nur alle vierzehn Tage von Kigoma aus ausläuft.

Allerdings ist das mit der Einhaltung des Fahrplans auch hier so eine Sache, womit wir endlich einen Spagat zu unserer heißgeliebten Deutschen Bahn schaffen. Im Durchschnitt verspätet sich die Liemba um vier bis fünf Tage. Manchmal kommt sie gar nicht.

Doch die Menschen nehmen es hier wohl mit Geduld, wenn sie im Norden oder im Süden auf ihre Liebsten warten. Selbst wenn sie hier ein Handy hätten, hätten sie hier in den meisten Ortschaften um den entlegenen Tangnanjikasee keinen Empfang. (95% der Bevölkerung haben in Tansania keinen Festnetzanschluss, nur 1/3 ein Mobiltelefon). Dabei beträgt die Entfernung Mpulungu – Kigoma auch 550 km.

Für alle Interessierten:

Über MSV Liemba gibt es heute kaum gute Forschungsliteratur. Bis auf des guten, aber zum Teil nicht historisch korrekten Romans von Alex Capus „Eine Frage der Zeit“, einen vor kurzen erschienen Reisebericht des Reporterduos Paulus/Wackenberg und einer Handvoll Zeitungsartikel findet man kaum etwas Ergiebiges zum Thema

Quellen/Literatur:

Alex Capus: Eine Frage der Zeit, München 2007.

Paulus/Wackenberg: Von Goetzen bis Liemba – Auf Reisen mit einem Jahrhundertschiff, Berlin 2013.

http://www.afrikahelp.de/de/ueber-tansania/gesundheitslage-in-tansania/

www.run-liemba.de