von Anna Sebastian
Sie sitzt im Zug. Alltägliche Handlung. Banaler Anfang. Jedoch der wesentliche Teil dieser Geschichte. Sie sitzt im Zug.
Dass sie in diesem Zug sitzt, ist keine Selbstverständlichkeit – im Gegenteil: Der bisherige Morgen war geprägt von nervösem Trippeln, dem andauernden Starren auf die Uhr und einigem Rennen. Beim letzten Sprint konnte sie sich gerade noch durch die sich schließenden Tür des Zuges drängen. Nun sitzt sie, nach Luft schnappend, im hinteren Teil des Zugabteils, welches für einen Samstagmorgen überraschend leer ist. Den Grund hierfür wird sie schneller begreifen als ihr lieb ist. Während sich ihr Herzschlag wieder normalisiert, lauscht sie mit geschlossenen Augen der Lautsprecherdurchsage. Nur um sich zu vergewissern, nicht in der ganzen Hektik in den falschen Zug gestürzt zu sein.
„Früher bin ich gerne mit dem Zug gefahren“, denkt sie sich im Stillen. Jene Stille wird allerdings unterbrochen von dem kratzigen Sound eines Handys. Helene Fischer tönt durch das Abteil und ihr wird bewusst, aus welchem Grund das Abteil so leer geblieben ist. Begleitet wird die musikalische Folter von dem lauten und beinahe hysterischen Gekicher einer Horde von Frauen mittleren Alters. Sie wirft einen Blick auf die lachende Herde. Gut, vielleicht auch schon eher fortgeschrittenen Datums. Das ist jedoch unwichtig. Die langsam entstandene Ruhe der jungen Frau ist verschwunden. Es fällt ihr schwer, die Euphorie ihrer Mitreisenden zu teilen.
„Früher mochte ich Zugfahren“, wiederholt sie im Geiste und packt ihren iPod hervor, um die musikalische Beschallung in eine ihr angenehmere zu verwandeln. Die Stunde morgens im Zug war lange ihre liebste Zeit des Tages, in der sie sich ihren Büchern oder einfach nur ihren Gedanken widmen konnte. Die Zeit, bevor zombieähnlich auf Smartphones gestarrt oder mit leerem Gesichtsausdruck den Klängen des iPods gelauscht wurde. Und bevor lärmende, vom Alltag abgestumpfte Hausfrauen den Zug als neuen Lebensraum zur Verwirklichung ihrer Partytriebe entdeckten. Sie empfand Mitleid mit diesen Frauen, deren Höhepunkt der Woche das Betrinken in Zügen mit Discountersekt auf dem Weg zu irgendeiner ach so weltveränderten, nichtssagenden Veranstaltung darstellte. Bevor man ihnen nicht nur am Wochenende, sondern nahezu an jedem Wochentag begegnete. Vorglühen im Zug, das neue Freizeitverhalten so mancher Ü40-Frauengruppe.
Sie ist nicht die Einzige im Zug, die sich von dem Lärm gestört fühlt. Um sie herum genervte Gesichtsausdrücke und wütende Blicke. Ein älterer Mann fasst sich ein Herz und bittet die Damen, die Musik zumindest leiser zu stellen. Die darauf folgenden Antworten werden dem Wort ‚Dame‘ leider nicht mehr gerecht. „Und diese Frauen ziehen Kinder groß und sollten diesen Grundwerte menschlichen Miteinanders vermitteln“, wundert sie sich wütend. Selbstverständlich sind diese Frauen eine Metapher und können beliebig ersetzt werden, beispielsweise durch dickbäuchige Männergruppen mit Fußballtrikots, die aber im Gegensatz zu den Ü40-Frauen ihre besten Jahre noch vor sich haben. Sie sind eine Metapher für den Egoismus einer Gesellschaft, der im Mikrokosmos „Zugabteil“ verstärkt sichtbar wird. „Es hat etwas Beängstigendes und zugleich Faszinierendes an sich….“. Ihre Gedankengänge werden abermals unterbrochen durch die Stimme aus dem Lautsprecher. Durch die gedankliche Beschäftigung mit den, nun ebenfalls ihren Sachen packenden, Frauen hatte sie völlig ihr Zeitgefühl verloren. Nun wird ihr bewusst, dass der Zug mehr als zehn Minuten Verspätung hat und es wohl wieder auf einen Spurt durch den Bahnhof hinausläuft, um ihren Anschluss zu erwischen. Sie drängelt sich an wartenden, zum Aussteigen bereiten Mitreisenden vorbei, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie gerade selbst eine Form des gesellschaftlichen Egoismus betreibt. Der Zug kommt zum Stehen und sie schiebt sich die Tür hinaus ins Freie, panisch nach Orientierung suchend, den Bahnsteig entlang. Treppe hinunter, Treppe hinauf. Zum wiederholten Male am Tage schiebt sie sich durch die piepsenden Türen eines Zugabteils. Das Abteil ist voller Menschen. Noch bevor sie sich entscheiden kann, in welche Richtung sie gehen möchte oder ob, sie verweilt, hört sie Musik: Helene Fischer.