„Nein, zum Abitur musste ich keine Bäume fällen“

Von der friedlichen Waldorfschule ins harte BWL-Studium – kann das gutgehen? Isabell Meurers interviewt eine Studentin, die den Sprung geschafft hat.

Die 21jährige BWL-Studentin Julia D. hat ihr Abitur auf einer Waldorfschule gemacht – und bereut es nicht.

Isabell Meurers: Sie waren von der ersten Klasse bis zum Abitur auf einer Waldorfschule. Warum haben Ihre Eltern sich damals für diese Schulform entschieden?
Julia D.: Weil meine Eltern auch schon ihr Abitur auf einer Waldorfschule gemacht hatten. Beide sind studierte Leute, aus denen „was Vernünftiges“ geworden ist. Sie haben ausschließlich gute Erfahrungen dort gemacht, daher war klar, dass ich und meine jüngeren Geschwister auf dieselbe Schule gehen. Dennoch hätte ich jederzeit wechseln können, wenn ich gewollt hätte.

Es gibt ja viele Vorurteile über Waldorfschulen …
O ja, die gibt es. Jeder, der erfährt, auf welcher Schule ich war, sagt als Erstes, dass ich bestimmt auch meinen Namen tanzen kann. Ich wurde sogar mal gefragt, ob ich bei meiner Abiturprüfung Bäume fällen musste. So ein Unsinn.

Aber woher kommt dieses Klischee?
Das Namens-Tanz-Fach heißt Eurythmie und ist ein normales Unterrichtsfach an einer Waldorfschule. Überspitzt gesagt, können wir auch unsere Namen tanzen, da man bei diesem Tanzstil unter anderem das Alphabet beschreiben kann. Jeder kennt den Song „Y.M.C.A.“, bei dem man seinen Körper einsetzt, um Buchstaben zu formen. Der Unterschied ist nur, dass man bei der Eurythmie durch den Raum läuft und lustige Gewänder trägt. Das ist aber nur ein kleiner Teil dieser Bewegungskunst. Sie beinhaltet weitaus mehr als nur Buchstaben zu formen, zum Beispiel die visuelle Darstellung von Tönen und Takten. Die Eurythmie ist eine recht komplexe Tanzkunst. Nur wissen das die meisten nicht.

Was sind die Vor- und Nachteile einer Waldorfschule?
Mein Cousin, der ein Gymnasium besucht, hat sich neulich beschwert, dass er – außer Sport – nur reine Schreibfächer hat …

War das bei Ihnen nicht so?
Nein, neben den Standardfächern, die man auf jeder anderen Schule genauso  hat, ist der Besuch von Nachmittagskursen obligatorisch: Töpfern, Schnitzen, Schreinern, Schmieden, Buchbinden, Stricken, Nähen oder Kochen, um nur einige Kurse zu nennen, die ich in meiner schulischen Laufbahn belegt habe. Viele Leute, die ich kenne, haben so etwas noch nie gemacht. Das ist doch schade.

Nachteile gibt es nicht?
Einen Nachteil haben wir Waldorfschüler sicherlich beim Abitur: Da wir von der ersten bis zur achten Klasse – im Vergleich zum Gymnasium – weniger lernen, müssen wir den ganzen Stoff ab der neunten Klasse recht zügig nachholen, damit wir das NRW-Zentralabitur bestehen können. Zudem können wir vorher keine Punkte sammeln, die dann mit den Prüfungsnoten verrechnet werden, sondern es werden ausschließlich die Abiturklausuren gewertet. Das kann sich natürlich positiv, aber eben auch negativ auf die Note auswirken. Ich war zum Beispiel immer gut in Deutsch, in meiner schriftlichen Prüfung hatte ich jedoch nur eine Drei. Das war dann leider meine Endnote.

Wäre ein Wechsel auf das Gymnasium nach der zehnten Klasse nicht sinnvoller gewesen?
Für mich wäre das nicht infrage gekommen, da mir die handwerklichen Fächer viel zu wichtig waren. Meine jüngere Schwester dagegen ist nach der neunten Klasse aufs Gymnasium gewechselt, da sie bei der Wahl ihrer Abiturfächer flexibler sein wollte. Ich musste zum Beispiel einen Deutsch-Leistungskurs nehmen und konnte dann nur noch zwischen zwei anderen Fächern wählen. Zudem hatte ich neben zwei schriftlichen Grundkursen noch zwei mündliche Prüfungen, also insgesamt sechs Abiturprüfungen.

Sie studieren heute BWL. In welcher Hinsicht war der Besuch der Waldorfschule für Ihr Studium nützlich?
Vier Mal im Jahr fand an unserer Schule eine sogenannte Monatsfeier statt. Alle Klassen haben dann etwas vorbereitet und das Einstudierte in der großen Aula vor Eltern und Mitschülern präsentiert. Außerdem mussten wir immer viele Referate halten. Im Gegensatz zu vielen meiner Kommilitonen habe ich heute keine allzu große Scheu davor, auf der Bühne zu stehen, Referate zu halten oder vor vielen Zuschauern frei zu sprechen, da ich in den 13 Jahren ein wenig Routine bekommen habe.

Und die dritte Generation geht später auch auf die Waldorfschule?
Definitiv. Den Kindern wird dort mehr Zeit gegeben, sich zu entwickeln, und sie haben mehr Möglichkeiten, ihre Stärken und Schwächen kennenzulernen. Dennoch sollte jeder für sich die richtige Schulform wählen und wenn meine Kinder auf der Waldorfschule unglücklich sind, stehe ich ihnen sicherlich auch nicht im Weg.