Wenn die Postmoderne zweimal klingelt oder: Für den Realismus!

von Sven Gringmuth

Ein Gastbeitrag für die LiteraListen zur Debatte um Enno Stahls Werk „Diskurspogo – Über Literatur und Gesellschaft“ (Berlin, 2013)

„Wenn Literatur nicht bei denen bleibt, die unten sind, kann sie gleich als Partyservice anfangen“ (Jörg Fauser).

Was soll Literatur, was soll sie nicht? Viele Antworten sind möglich, viele sind sicherlich richtig, aber eine gewichtige Funktion von Literatur war und ist das „einfache, wahre Abschreiben der Welt“, wie Rainald Goetz es einmal formulierte. Die widerspiegelnde (hier wird Christian Schütte aufschreien und mich als Marxisten entlarven – das ist okeh – nehmen wir trotzdem einen anderen Begriff …) darstellende Kraft, die Literatur besitzt, ermöglicht es uns, unsere Lebensbedingungen zu erforschen, zu vergleichen; sie kann Lernprozesse in Gang setzen, Erfahrungen vermitteln und uns dazu bewegen, Dinge verändern zu wollen.

Literatur hat, ob man dies wahrhaben will oder nicht (!), eine gesellschaftliche Rolle/Funktion und hat in der Vergangenheit stets gesellschaftliche Prozesse antizipiert, begleitet, kommentiert oder eine Draufsicht aus der Rückschau ermöglicht. Das System Literatur war in der Vergangenheit (häufig) ein sensibler Seismograph, der schon kleinste soziale Erdbeben aufgezeichnet hat und uns die Auswertungsergebnisse oder Zwischenstände heute ablesen lässt.

Um es gegenständlicher zu machen: Wer etwas über die Zensurpraxis und die feudalen Herrschaftsverhältnisse der Vormärzzeit wissen will, der lese Heinrich Heine; wer sich über die Auswirkungen der Ideen der Französischen Revolution in Deutschland schlaumachen mag, der lese Friedrich Hölderlin; wer wissen will, wie es war als Punk auf dem Dorf im Norddeutschland der 1980er-Jahre aufzuwachsen, der lese Rocko Schamoni; wer etwas über subkulturelle Praktiken und Sprachcodes der drug culture wissen will, der lese Irvine Welsh; wer wissen will, wie sich ein westdeutscher Bürger in der späten DDR gefühlt hat, der lese Ronald M. Schernikau. Für jeden was dabei und jedes Buch eine kleine soziologische, historische, kommunikationswissenschaftliche (etc.) Abhandlung, die uns heute gesellschaftliche Zustände nachvollziehen lässt, die Zeugnis ablegt über bestimmte Zäsuren, Brüche, Kontinuitäten, Milieus und die uns (wenn man mit den richtigen Augen darauf schaut …) eine Pforte zeigt, durch die man schlüpfen und dann schauen kann – was viel nachhaltiger wirken und aufklären kann, als die vielen Standardschinken der Geschichtswissenschaft oder der kritischen Soziologie.

Nun ist die heutige Literatur weder schlechter noch besser als die der vorigen Jahrzehnte, Jahrhunderte. Sie ist (natürlich!) Widerspiegelung (ich lasse das Wort an dieser Stelle stehen …) der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Klassenverhältnisse im ziemlich späten Spätkapitalismus. Warum finde ich, dass Enno Stahls Buch das Schlüsselwerk zur Auseinandersetzung über die deutsche Gegenwartsliteratur ist? Weil er an einem sehr sensiblen Punkt nachbohrt – nämlich der Frage nachgeht: Wie kann es sein, dass wir alle einen Großteil unserer Lebenszeit in Schulen, Universitäten, Büros, Fabrikhallen, Sitzungsräumen, Krankenhäusern, Transportfahrzeugen, auf Feldern, Baustellen etc. verbringen, aber dieser (neben dem Schlaf vielleicht) größte Part unseres Lebens so gar nicht (mehr) in der Literatur vorkommt? Und das, obwohl die Verhältnisse immer kritikwürdiger werden! Wenn mir in meiner Sprechstunde Studierende von ihren Erfahrungen in und mit der Arbeitswelt berichten (zum Beispiel von Praktika, bei denen man sich den Arsch aufreißt und entweder gar nicht oder schlecht bezahlt wird oder von Nebenjobs, bei denen man vom Gehalt kaum oder überhaupt nicht die WG-Zimmer-Miete bezahlen kann …), dann sind das Verhältnisse, die die Modewortschöpfung „Prekariat“ sehr plastisch machen und aufzeigen, dass uns so etwas DOCH umtreibt, umtreiben muss! Wenn junge Lehrer schon nach wenigen Jahren wegen Burn-out-Erscheinungen aus dem Job gehen müssen und auch die akademische Schicht längst nicht mehr behaupten kann, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit sie nicht beschäftige, dann ist doch etwas faul. Und auch in den glorifizierten flexiblen Bereichen (Werbeindustrie z.B.) merken die meisten Angestellten schnell, dass es zwar schön ist, wenn der Chef einen duzt und mittags mit dem Team auch mal eine Pizza essen geht, aber das dies nicht wirklich dafür entschädigt, wenn es in der Agentur dann doch mal wieder drei Uhr nachts geworden ist, bis der Auftrag fertig ist. „Macht nix, kommste morgen ´ne halbe Stunde später …“. Toll, danke auch.

Warum werden diese Bereiche des Lebens, das Arbeitsleben also so grundsätzlich ausgeklammert? Vielleicht, weil die Neo-Biedermaier-Phase, die uns das TV verordnet hat (schöne renovierte Wohnung, schöner zu mir passender Partner, schönes selbstgekochtes Essen reicht aus – mehr braucht der Mensch nicht!), hier adaptiert und lediglich mit mehr „drama, baby!“ angereichert in der Literatur serviert wird? Schöne Menschen in schönen Wohnungen leiden in dünnen Büchern nur noch darunter, dass sie ab und an vom Partner verlassen werden und (bis der/die Neue da ist) dann mal auf der Borsteinkante in St. Pauli bei einem Astra und ´ner Kippe depressive Anekdoten für uns ausbreiten. Ehrlich gesagt: Das reicht mir persönlich nicht, das kann ich nicht ernst nehmen.

Damit man mich nicht missversteht – und Christian Schütte hat, denke ich, Enno Stahl schon (bewusst oder unbewusst, das sei dahingestellt …) missverstanden – Niemand will eine Literatur, die sozialen Realismus „verordnet“! Um Marx Willen! Das große „Muss“ in seinem Kommentar hat mich geärgert, weil er damit Assoziationen beschwor: Muffige Werkkreis-Literatur der 70er-Jahre – man liest es und prompt riecht es nach DDR und Dogma, nach schlechtem Sex und anstrengenden Diskussionen. Dabei hat Enno Stahl nie von einem „Muss“ gesprochen und nie auf eine reine working-class-Literatur positiv Bezug genommen, das kann man (der mp3-Aufzeichung der LiteraListen sei Dank!) auch nachprüfen. Im Gegenteil. Er hat zum Beispiel Rainald Goetz letztes Werk, den Roman „Johann Holtrop“ (Berlin, 2012), die Fake-Biographie vom Aufstieg und Fall eines deutschen Managers als gelungenes Beispiel realistischer Literatur hervorgehoben! Der Vorwurf einer Glorifizierung des proletarisch-revolutionären Gestus in Literatur und Kunst lässt sich also leicht entkräften.

Und doch, was einmal geschrieben steht, geistert herum in den Köpfen – die bange Frage: Wird da nicht doch am Ende irgendwas abgewehrt, zensiert, bedrängt? Müssen die Utopisten, Avantgardisten, Sprachkünstler nach der sozialrealistischen Revolution des deutschen Literaturbetriebs (die nicht in Aussicht steht) ins Gulag? Nein, natürlich nicht! Soll doch jede/r schreiben, was er/sie mag! Es ging uns, mir und Fabian Deus, die Enno Stahl eingeladen haben, um eine literaturtheoretische Bestandsaufnahme, nicht um einen Schreibkursus „Realismus“, inklusive Verpflichtung direkter/praktischer Anwendung/Umsetzung: „So, jetzt kennt ihr die Grundlagen, nun macht mal, Kinder …“. Daran hat gewiss niemand gedacht.

Was mich am Ende allein ratlos zurücklässt, ist die reflexhafte Abwehr eines jeglichen kritischen Reflexionsmoments in der Literatur. Sagt man Engagement und Kunst, folgen die wildesten Unterstellungen. Will da nicht jemand selbst etwas beschneiden, unterdrücken, klein halten? Ich habe ja oft Wortfindungsschwierigkeiten: Wie nennt man das doch gleich, wenn man dem Gegenüber Verhaltensweisen unterstellt und kritisiert, die man selbst praktiziert? Ach ja, Projektion, genau!

Und jetzt: Ab in die Mensa!