… wenn sie der Hafer des Wahnsinns sticht

Siegfried Lenz‘ Roman Der Überläufer (Hoffmann und Campe 2016)

von Marius Albers

Kurz vor seinem Tod im Oktober 2014 vermachte Siegfried Lenz sein persönliches Archiv dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Unter den Dokumenten befand sich auch das Manuskript zu seinem zweiten Roman Der Überläufer aus den 1950er Jahren, den er jedoch aufgrund von Unstimmigkeiten mit Lektor und Verlag nie selbst veröffentlichte. Doch was im ersten Moment klingt wie der angestaubte Archivfund eines berühmten Autors, erweist sich bei der Lektüre als hochaktueller Stoff.
Es ist die Endphase des Krieges, in den Sümpfen nahe Tamaschgrod: Walter Proska ist auf dem Weg vom Heimaturlaub zurück an die Front. Doch bevor er seinen Bestimmungsort erreicht, wird der Zug von Partisanen in die Luft gejagt – nur Walter überlebt. Er wird von der Patrouille einer im Wald stationierten Truppe aufgelesen, die isoliert und eingekesselt von Partisanen in einem Unterschlupf in den Sümpfen weilt.
Nun entwickelt sich ein beklemmendes Kammerspiel. Abgeschnitten von der Außenwelt – bald fliehen auch die letzten Kameraden vom nächstgrößeren Standort in der Stadt – sind die sieben Verbliebenen gänzlich auf sich allein gestellt. Doch auch in dieser vermeintlich aussichtslosen Situation behält paranoide Unteroffizier Willi Stehauf den militärischen Drill aufrecht. Es ist das Pflichtbewusstsein, dass die Soldaten bei der Stange hält: „‚Diese sogenannte Pflicht‘, sagte das Milchbrötchen verächtlich. ‚Dieses Zeug haben sie uns unter die Haut gespritzt. Sie haben uns irre damit gemacht, unselbständig. Die haben versucht, uns durch eine raffinierte Injektion von Pflichtserum besoffen zu machen.‘“ (99) Und als Zwiczosbirski, wegen einer alten Verletzung am Bein auch „Schenkel“ genannt, sein Gewehr verliert, bringt er auf den Punkt, was für die Männer gilt: „‚Und Leben von Zwiczosbirski gehört ihm nicht ganz allein, sondern auch dem Herrn Unteroffizier. Was war ich dumm, daß ich habe vermietet mein Leben.‘“ (200)
Dem schon erwähnten „Milchbrötchen“, eigentlich Wolfgang Kürschner, kommt im Roman eine besondere Rolle zu: Diese Figur stellt in gewisser Weise Lenz‘ erhobenen Zeigefinger dar. Denn Der Überläufer ist mehr als nur ein ungemein spannender Kriegsroman, er bietet zuweilen auch in beinahe pamphletischem Ton ein Plädoyer gegen den Krieg. Dies wird zumeist verpackt in den Reden des Milchbrötchens, der im „normalen Leben“ Student ist und immer wieder den Intellektuellen heraushängen lässt. Er möchte Proska überzeugen, sich gegen das Regime, die „Klicke“, wie es er nennt, zu stellen: „Man muß die Kraft haben, einer Sache, der man zwanzig Jahre lang nachgelaufen ist, einen Fußtritt zu geben, wenn man einsieht, daß diese nicht nur falsch, sondern gemein, hinterhältig, gefährlich und mörderisch ist.“ (102) Doch damit allein ist es nicht getan, denn „der untätige, der passive Pazifismus ist ein impotentes Gespenst.“ (237) Handlungen müssen folgen, man muss sich aktiv dagegenstellen. Das „Milchbrötchen“ läuft zu den Partisanen über, verrät die alten Kollegen. Als die Partisanen schließlich die kleine Festung im Wald eingenommen haben, schließt sich auch Walter ihnen an. Damit beginnt seine größte persönliche Tragödie in diesem Krieg.
Mit gewaltigen Bildern malt Lenz das Szenario aus: „Dort hinten, wo das Gewitter stand, zuckten Granaten in die Erde, da zersplitterten die Bäume, da rasierte der Stahl das Leben vom Boden. Da surrten die Splitter durch die Luft, da klatschten hochgewirbelte Erdklumpen in die Pfützen, da kippten die Körper ins Nichts, da stand der Tod am Fließband. Dort hinten, unter dem Gewitter.“ (246) Auch die Aussichtslosigkeit und den beginnenden Wahnsinn der eingekesselten Truppe fängt er bedrückend genau ein.Und es sind Episoden wie jene, in der Schenkel durchdreht, als er es nicht schafft, einen Hecht aus dem Fluss zu angeln, die den Roman stark machen: „Zwiczosbirski stand da, als ob man ihm einen zehnzölligen Nagel in die Stirn getrieben hätte. Er zitterte an allen Gliedern, aber ruck- und stoßweise, gerade so, als daß man hätte meinen können, der Rest von Lebenselektrizität verlasse auf diese Weise den Körper.“ (172)
Andererseits ist es sicherlich nicht jedermanns Sache, wenn ein Autor immer wieder – und dazu noch so offensichtlich – die Moralkeule schwingt. Doch hierin spiegelt sich auch die Entstehungszeit des Romans wieder. Die Schrecken des Krieges waren noch frisch, und mit aller Vehemenz wollte man vermeiden, dass so etwas je wieder vorkommt. Zumal sich hinter dem Krieg kaum mehr verbirgt als der Wahn:„Krieg: das ist das grausam-lächerliche Abenteuer, in das sich Männer einlassen, wenn sie der Hafer des Wahnsinns sticht.“ (161) Schaut man sich heute um, so muss man feststellen, dass solcherlei pazifistische Anstrengungen immer mehr in gefährliche Vergessenheit geraten.
Neben dieser eindeutigen Haltung gegen den Krieg stimmt Lenz auch Kritik gegen den Nationalismus an: „Ansteckend ist jedoch das nationalistische Ressentiment. Dieses Ressentiment ist die Wurzel des deutschen Hochmuts und der Quell dieses gottverdammten Auserwähltheitsbewußtsein.“ (238) Ein überhöhter Nationalstolz darf es nicht wert sein, dafür in den Kampf zu ziehen, doch er wird stets wieder gesät und herangezogen: „Aber ich würde mich für n Winkel oder Weg abknallen lassen wie mein Vater. Er nämlich sprach von ‚Pflicht‘, vom ‚Bereitsein‘, und wie dieses rhetorische Sickergift sonst noch heißt.“ (101) Es ist also Vorsicht geboten, und das gilt heute mindestens ebenso wie für die Zeit nach dem Krieg. Und so bleibt dieser Roman zwar ein Produkt seiner Zeit, doch die vermittelten Botschaften offenbaren trotz aller Historizität auch nach gut 60 Jahren in der Schublade noch eine brisante Aktualität.