Rezension zu Anna Seghers‘ Transit
von Michael Fassel
„Die ,Montreal‘ soll untergegangen sein zwischen Dakar und Martinique. Auf eine Mine gelaufen. Die Schifffahrtsgesellschaft gibt keine Auskunft. Vielleicht ist auch alles nur ein Gerücht.“ Diese keinesfalls gesicherten Informationen teilt uns der Ich-Erzähler in Anna Seghers‘ Roman Transit mit, der aus einem Konzentrationslager geflohen ist und sich nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris nun in der französischen Hafenstadt Marseille befindet, wo er wie viele andere Leidens- und Hoffnungsgenossen auf die Transitpapiere und sein Visa wartet. Doch es tut sich nichts. Die Ungewissheit ist ein ständiger Begleiter der Hauptfigur, der bewusst ist, dass ihr ein ähnliches Schicksal bevorstehen könnte wie den zahlreichen Passagieren, die zu in die Vereinigten Staaten emigrieren wollten, jenem Sehnsuchtsort, an dem sich die Freiheit wieder leben und atmen lässt.
Von Beginn an dominieren Unbehagen und Ungewissheit die gesamte Handlung bis zum letzten Satz. Die Nazis, die bereits Paris besetzt haben, liegen wie ein Schatten über Frankreich und der gar nicht mehr sonnigen Stadt am Mittelmeer, sowie über der Existenz tausender Flüchtlinge, unter denen sich auch die Hauptfigur und Erzähler befindet. Während er auf seinen Transit wartet, um baldmöglichst Europa zu verlassen, sinniert er über Pizzen, über deren Geschmack, über deren Aussehen („Rund und bunt wie eine Torte“), sei es aus Langeweile oder aus Ablenkung vor gespenstischen Szenarien, die sich ebenfalls dem Geist des Ich-Erzählers bemächtigen: „Der Untergang der Welt stand bevor, morgen, heute Nacht, sofort.“ Ein Ausdruck dieses apokalyptischen Szenarios sind die Hakenkreuz-Flaggen, die in Paris wehen. Ein Bild, das nicht nur im Ich-Erzähler ein Grausen hervorruft, sondern auch bei den Leser*innen einen Schauer über den Rücken jagt.
Eindrücklich wird beschrieben, wie der Ich-Erzähler von Café zu Café zieht, in sein Zimmer zurückkehrt oder mal mehr, mal weniger zuversichtlich aufs Konsulat geht. Ein ständiger Begleiter ist die Langeweile sowie der allgegenwärtig tote Schriftsteller Weidel, dessen Identität er vor den Ämtern angenommen hat, um sein Abreise-Prozedere nach Mexiko zu ermöglichen. Zwar beschleunigt auch dies nicht seine Ausreise, aber immerhin wird ihm eine Aufenthaltsgenehmigung in Marseille gewährt. Von da an heißt wieder: Warten. Die immerwährende Eintönigkeit ist nicht nur ein subjektives Empfinden, sondern eine geradezu universale Anspannung, eine Erlahmung des gesellschaftlichen Lebens: „Das Café starrte vor Kälte und Langeweile. […] Es war bestimmt der ödeste Ort in Marseille, vielleicht am ganzen Mittelmeer.“ Trotz der immer wiederkehrenden Betonung der Langeweile, umschifft der Text Längen.
Transit ist nicht nur ein Ort oder ein Zwischen-Raum, sondern ein Gefühl, ein Funken Hoffnung, in dem sich Beklommenheit und Unbehagen manifestieren. „Doch die Gesichter der Menschen, die in der Vorhalle [des Konsulats der Vereinigten Staaten] warteten, um in die höhere Vorhalle hinaufgelassen zu werden, waren bleich vor Furcht und Hoffnung.“ Auf unvergleichliche Weise vermittelt der Text eine fast schon paradox anmutende Mischung aus Zuversicht und Angst, die hier erstaunlich nah beieinander liegen.
Der im mexikanischen Exil geschriebene Roman, in dem Seghers eigene biographische Erlebnisse verarbeitet hat, ist mehr als ein Klassiker der Exilliteratur. Er ist ein Roman für unsere Zeit. Denn er gibt geflüchteten Menschen eine Stimme – unabhängig davon, woher sie kommen, wie sie aussehen, welche Sprache sie sprechen, woran sie glauben und wohin sie gehen. Dies lehrt uns Anna Seghers in einer Zeit, in der man Flüchtlinge kategorisiert. Und es wird auch mittlerweile in konservativen Kreisen kein Hehl mehr daraus gemacht, sie baldmöglichst wieder fortzuschicken in ihre zerstörte Heimat. Insofern ist Transit, wie die gleichnamige Verfilmung Christian Petzolds, – die uns im Übrigen daran erinnert, dass auch ein Deutscher im 21. Jahrhundert ein Flüchtling sein kann – von verblüffender Brisanz.