Rezension zu Mariana Lekys Was man von hier aus sehen kann
von Michael Fassel
Ein Dorf im Westerwald als zentrales Setting in einem Roman – das ist in der deutschen zeitgenössischen Literatur eine Besonderheit. Es muss nicht immer Berlin sein, um das pulsierende Leben darzustellen. Denn in ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann entwirft die gebürtige Kölnerin Mariana Leky einen lebhaften Mikrokosmos, in dem ebenso skurrile Figuren für amüsante Unterhaltung sorgen. Dieser Eindruck kommt bereits nach den ersten Seiten zustande, wenn die Ich-Erzählerin Luise vom Traum ihrer Oma Selma berichtet. Ein magisch-untrügliches Zeichen, denn immer wenn Selma von diesem giraffenähnlichen Tier träumt, stirbt innerhalb des nächsten Tages eine Person im Dorf. Man hofft auf weitere derartige originelle Ideen und die Leser*innen werden nicht enttäuscht. Doch lässt sich der Roman weder auf die Skurrilität der Figuren noch auf seinen Unterhaltungswert reduzieren, vielmehr liegt seine Besonderheit in der Entwicklung der Charaktere, die facettenreich angelegt sind. Der Vater von Luises Freund Martin etwa wird als schlagender Choleriker eingeführt und später zu einer gebrochenen, fast zu bemitleidenden Figur.
Mariana Leky bricht mit dem heilen Bilderbuchleben auf dem Land – und das ist wohltuend. Denn unter der lebendigen, aber teils anmutenden blumigen Sprache, die von ungewöhnlichen Vergleichen und Metaphern lebt („Wir hatten alles versucht, aber der Weihnachtsbaum wollte nicht gerade stehen, deshalb zog der Optiker sich Gartenhandschuhe an und hielt ihn fest, […] er hielt ihn am ausgestreckten Arm unterhalb der Spitze wie einen gerade eingefangenen Verbrecher mit Fluchtgefahr.“, S. 221), schlummern die literarischen Universalthemen wie die große Liebe und der Tod. Eine besonders eindringliche Szene, die die gar nicht so heile Welt auf dem Westerwald widerspiegelt, handelt etwa vom Totschlagen eines verletzten kleines Vogels. Das Tragische daran: Martin, Luises bestem Freund, gelingt es nicht, ihn mit einem Hieb von seinen Qualen zu befreien. Und obgleich je ein Mensch aus Luises persönlichem Umfeld in jedem der drei Romanteile stirbt, hat die Geschichte etwas Leichtes, etwas Beschwingtes, das die Schwere solcher Situationen und Themen um ein Vielfaches erträglicher macht. Dies mag an der durchaus humorvollen Rahmung der eigensinnigen Dorfbewohner wie Marlies liegen, die stets nur mit Norwegerpullover und Unterhose zu Hause bekleidet ist, und des teilweise schroffen Umgangs der Bewohner untereinander liegen, unter dem sich jedoch eine freundschaftliche Zuneigung versteckt, die den Figurenbeziehungen eine besondere Dynamik verleiht.
Dass unter der heiter anmutenden Oberfläche liegt ein ungeheures Potenzial an Dramatik – vom schlagenden alleinerziehenden Vater über die zerrüttete Ehe von Luises Eltern bis hin zur Vogelszene – macht Was man von hier aus sehen kann zu einem so lesenswerten Roman, dass man beim zweiten Lesen noch deutlich mehr Details entdeckt. Und er ist überdies insofern ein zweites Mal lesenswert, als man ihn durchaus als psychologischen Roman lesen kann, wenn man gleich einem Detektiv die jeweiligen Motive und Wünsche der Charaktere verfolgt. Warum flieht Luises Vater in die weite Welt? Warum schläft Luise nach dem ersten Todesfall Tag und Nacht in den Armen ihrer Oma? Glücklicherweise beantwortet solche Fragen nicht Mariana Leky, nicht die Ich-Erzählerin. Und das macht den Roman zu einem tragikomischen Erlebnis.
Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann. Dumont, Köln 2017.