1.6.2015: Siegen und hässlich? Ach was, wir haben Potential!

von Natalie Meyer

Was erlaubt sich diese Berliner Redakteurin der „möchtegern“-seriösen Tageszeitung (Axel Springer Verlag) namens „Die Welt“ eigentlich? – dachte sich wohl Florian Adam von der Siegener Ausgabe der Westfalenpost und konterte mit bissigen Spitzen und einer Liebeserklärung an seine Heimatstadt Siegen in seinem Artikel „Die schrecklichste Stadt der Welt“ vom 5.5.2015. Siegen schlägt zurück!

Hintergrund: Am Arthur-Woll-Haus fand vom 22. bis zum 25. April eine internationale Heidegger Tagung statt, die anscheinend für so viel Aufsehen sorgte, dass eine „Welt“-Redakteurin extra aus Berlin anreiste. Ihre Erlebnisse verarbeitete sie in ihrem Artikel „Hier wird Heidegger der Prozess gemacht“. Die ersten Zeilen:
„Siegen ist die schrecklichste Stadt der Welt. Vielleicht der richtige Ort, um an drei Tagen, in dreißig Vorträgen über einen Nazi-Philosophen zu Gericht zu sitzen? Eine Reise ins Herz der Finsternis.“
Und es geht noch weiter. In Siegen riechen laut Welt-Journalistin Hannah Lühmann die Pizzerien nach Schwimmbad, die Straßenführung bringt sie zum Weinen und Siegen sei jeglicher Schönheit beraubt.


Dies lässt Florian Adam nicht auf sich sitzen und zweifelt zu Recht an den journalistischen Kompetenzen von besagter Frau Lühmann:
„Überhaupt hat Kollegin Lühmann – darf ich sie als Provinzredakteur überhaupt Kollegin nennen? – sich vor ihrem Artikel ein echt ausgewogenes Bild von der Stadt gemacht. Ihren Ausführungen nach bewegte sie sich vom Bahnhof zum Eichenhang und wieder zurück. (…) aber einer versierten Autorin aus der Hauptstadt reicht ein solcher Eindruck, um eine Situation bewerten zu können. (…)“
Als Studenten der Universität, die aus Köln nach Siegen gezogen sind, oder vom tristen Land voller Erwartungen in die große Stadt kamen, kennen wir die Ansichten von Lühmann. War nicht unser erster Eindruck ganz ähnlich? Meiner schon. Als ich zum Wintersemester 2013 von meinem 1.000-Seelen-Dorf nach Siegen zog, war mein Eindruck auch durchgehend negativ. Ständiger Regen, seltsame Öffnungszeiten von Supermärkten, schlechte Busverbindungen, eingeschränkte Feiermöglichkeiten, entwicklungsbedürftiges Kulturprogramm. Nun wohne ich schon fast zwei Jahre hier – und rege mich darüber auf, wenn ich Lühmanns Artikel lese. Natürlich gibt es schönere Städte als Siegen, aber ähnlich wie Herr Adam finde ich es auch äußerst unqualifiziert, sich einfach über eine Stadt auszulassen, deren Hintergrund, Infrastruktur und Kultur man gar nicht kennt. Sicherlich hätte Lühmann neben der Tagung auch über die überfüllte Universität berichten können oder einen vermeidlich „maroden“ Zustand der Uni – solche Artikel sind doch momentan schwer in Mode. Sie hat sich aber nicht die Uni angesehen, genauso wenig wie die Stadt. Die Übereifrigkeit der Boulevard-Presse – denn von „Qualitätsjournalismus“ kann bei diesem Artikel bei aller Liebe keine Rede mehr sein – scheint über sie gekommen zu sein. Heidegger hat nicht zu viel hergegeben. Der Fauxpas eines Wissenschaftlers kam nicht zustande. Eine langweilige Tagung – genauso langweilig wie diese Stadt. So in etwa stelle ich mir die Gedankenströme in Lühmanns Kopf vor. Und schon hatte sie etwas, über das sie sich aufregen konnte. Nur bitte, liebe Frau Lühmann: Wir lieben doch alle schlecht recherchierte Artikel, über die wir uns aufregen können. Aber nicht über unser heißgeliebtes Siegen, nicht über unsere heiß geliebte Uni…
Das Gegenteil ist wohl der Fall. Welcher Student, der nicht ursprünglich aus dem Siegerland stammt, liebt schließlich diese Uni und diese Stadt? Dementsprechend ist Lühmanns nüchternes Urteil genau das, was wir alle irgendwo noch denken oder am ersten Tag in dieser verregneten Stadt gedacht haben. Aber so etwas darf man als Journalistin nicht so unqualifiziert und ungefiltert schreiben oder besser gesagt: Man sollte es nicht tun. Auch, wenn es ihr gutes Recht ist – schließlich herrscht in Deutschland Meinungsfreiheit.
Auch wenn Florian Adam wohl etwas verklärt in seinem Kommentar von Siegens Schönheit erzählt und vollends die Nachteile Siegens außer Acht lässt(außer einem Schaukasten zur langen Tradition von Siegens schlechtem Ruf) – er schlägt zurück, Siegen schlägt zurück.
Dabei hat Siegen doch irgendwo Potential, oder? Ein eigenes Theater, das auch ab und zu in Kooperation mit einem Ensemble Eigenproduktionen präsentiert, eine expandierende Uni, eine kleine aber feine Medienlandschaft – und jetzt wird in der Innenstadt auch noch die Sieg wieder ausgebuddelt! Was will man mehr?
Weil mich Florian Adams pointierter und bissiger Kommentar so mitgerissen hat, musste ich auch meine Meinung dazu loslassen. Schließlich ging es in dem Artikel auch um unsere Uni –da ist es eine Art von Pflicht der studentischen Online Zeitung, ebenso wie die Siegener Redaktion der Westfalenpost, eine Verteidigung vorzubringen.
Das ist wichtig. Hoffen wir, dass die „Welt“, Journalisten mit ähnlicher Vorgehensweise des Öfteren entlarvt werden. Von der Provinz, über die sie herziehen ohne dabei eine rechte Argumentation als Grundlage zu haben – nur, um beim Schreiben über einen trockenen Vortrag etwas Feuer in das nicht vorhandene Öl gießen zu können.

Die besprochenen Artikel findet ihr hier:
http://www.welt.de/kultur/article140145963/Hier-wird-Heidegger-der-Prozess-gemacht.html
http://www.derwesten.de/staedte/nachrichten-aus-siegen-kreuztal-netphen-hilchenbach-und-freudenberg/gruesse-aus-der-schrecklichsten-stadt-der-welt-cmt-id10637444.html
Und zum Vergleich ein Artikel der Neuen Züricher Zeitung zur Siegener Heidegger-Tagung, die sich auf das Wesentliche konzentriert – nicht ohne den Begriff der „Stadt Siegen“ einzugrenzen in den Wortlaut „der Ort Siegen“.
www.nzz.ch/feuilleton/buecher/kann-ein-untoter-sterben-1.18531671