von Lisa Pilhofer
Das Buch steckt in einem dunkelgrauen Schuber, auf dessen Vorderseite ein schwarzes, glänzendes S. abgebildet ist. Bevor man das Buch aus dem Schuber nehmen kann, muss man erst einen Aufkleber vorsichtig entfernen. Auf diesem Aufkleber ist ein winkender Affe, das S. auf einem Kompass und ein großes, altes Segelschiff – es vermittelt den Eindruck, als wäre dieses Buch kein Roman, sondern handle eher von Naturwissenschaften. Ein Bibliotheksaufkleber befindet sich auch auf dem Buchrücken, was verwunderlich ist, schließlich wurde dieses Buch in einer Buchhandlung erworben. Der Einband sieht aus, als wäre er aus gewebten Leinenfasern, er fühlt sich auch ein bisschen so an, ist aber tatsächlich nur aufgedruckt. Schlägt man das Buch auf, wird es noch kurioser: Die Seiten sind vergilbt und es ist von vorne bis hinten mit handgeschriebenen Nachrichten und Notizen in verschiedenen Farben vollgekritzelt!
Doch nicht nur das, zwischen den Seiten stecken Postkarten, Kopien offizieller Dokumente, Briefe, Bilder, ein Zeitungsausschnitt und sogar eine beschriebene Serviette! Dabei ist es ein komplett neues Buch, es war in Klarsichtfolie verpackt! Es riecht neu! Es fühlt sich neu an! Dennoch sieht es alt und gebraucht aus und stammt offensichtlich aus einer Bibliothek, sogar die Leihfristen sind am Ende des Einbands mit Stempeln vermerkt.
Die handschriftlichen Notizen bzw. Nachrichten, die offensichtlich von zwei Studenten stammen, offenbaren, dass es Zweifel an der Autorschaft dieses Buches gibt. Das Schiff des Theseus wurde angeblich von einem gewissen V.M. Straka verfasst, zu dessen Leben und Ableben es viele Theorien gibt. Zumindest, wenn man den Buchseiten-Vollschreibern Glauben schenkt. Wer war Straka? fragen sie sich. Was weiß der Übersetzer dieses Werkes, F.X. Caldeira, über ihn? Enthalten seine Fußnoten wirklich einen Code um herauszufinden, ob Straka noch lebt oder nicht? Ist Caldeira Straka? Ist vielleicht sogar der Protagonist der eigentlichen Geschichte aus Das Schiff des Theseus der Autor? Denn auch der Hauptcharakter heißt S. – er hat einen Gedächtnisverlust erlitten und weiß nicht, wer er ist. Allerdings scheinen so gut wie alle anderen, die er trifft, seine Identität zu kennen. Und S. wird von einem dramatischen und gefährlichen Ereignis ins nächste verstrickt, verfolgt von dubiosen Agenten, ohne zu wissen warum. Er weiß auch nicht, warum er auf einem Schiff festgehalten wird, auf dem keiner der Matrosen redet. Ein Schiff, das jedes Mal, wenn es in einem Unwetter zerstört wird, wieder mit neuen Brettern zusammengebaut wird. Ein Schiff, das sich immer wieder verändert und doch irgendwie gleich bleibt, dasselbe bleibt. Das Schiff des Theseus eben. Übrigens ein tatsächliches philosophisches Paradoxon: Verliert ein Gegenstand seine Identität, wenn einige oder alle seine Einzelteile nacheinander ausgetauscht werden?
Wie sieht es mit einem Buch aus, dass man mehrmals liest? Wie sieht es mit der menschlichen Identität aus? Recht tiefgründige Fragen, die auch die Buchseitenkritzler beschäftigen, besonders im Zusammenhang mit Straka.
V.M. Straka existiert nämlich nicht. Zumindest nicht in unserer Welt, nur in der Welt im Das Schiff des Theseus.
Nur dort gibt Straka Rätsel auf.
Nur dort wird ihm politische Radikalität, Mord und Entführung vorgeworfen.
Nur dort beschäftigt Straka die Literaturwissenschaftler der ganzen Welt.
Nur dort begeben sich die Randnotizenschreiber in Gefahr, als sie an ihrer Universität mehr über Straka herausfinden wollen und sich mit den dazu forschenden Dozenten anlegen.
Nur dort machen die Kopien der Dokumente und das restliche Beiwerk Sinn.
Nur dort sind die Fußnoten ein Code – oder auch nicht.
In unserer Welt, in der Wirklichkeit, ist Das Schiff des Theseus ein literarisches Experiment von J.J. Abrams (u.a. bekannt als Regisseur des letzten Star Wars Films Das Erwachen der Macht) und dem amerikanischen Schriftsteller Doug Dorst.
Die Idee dazu kam Abrams, als er ein herrenloses Buch fand, in dem jemand reingeschrieben hatte, man solle dieses Buch lesen und dann wieder für jemand anderes zum Lesen liegenlassen. Das erinnert mich an das sogenannte Bookcrossing: Dabei wird, einfach ausgedrückt, ein Buch „in die Freiheit entlassen“, d.h. irgendwo in einem Park, in einem Café, in einem Baum etc. platziert, wo es jemand finden kann, mitnimmt, liest und nach Ende der Lektüre das Buch wieder woanders ablegt, damit es der nächste findet, mitnimmt, liest und das Buch so immer weitergegeben wird.
Das Schiff des Theseus ist wie eine kleine Schatztruhe. Die Geschichte, die sie erzählt, mag literarisch vielleicht nicht wirklich originell oder spektakulär sein. Die Kommentare der beiden Studenten scheinen auch manchmal etwas prätentiös und abgehoben. Nichtsdestotrotz ist Das Schiff des Theseus ein besonderes Lesevergnügen, dass mir vor allem eines wieder vor Augen hält, nämlich: „Nicht alles, was ein Schriftsteller schreibt, beschreibt den Schriftsteller“.
Das Schiff des Theseus, von J.J. Abrams, Doug Dorst, bei Kiepenheuer&Witsch GmbH, Oktober 2015, limitiert, 45,00 € (ja, es ist ein teures Vergnügen…).