Kapitel 1
von Michael Fassel
Die schulterlangen Haare waren fransig. Sie hätte doch noch zum Friseur gehen sollen, als sie sich im Spiegel betrachtete.
Oder sie würde den Board-Friseur aufsuchen.
Der aber kostete mindestens das Doppelte als in der Stadt.
Aber sie fand, dass sie heute trotzdem besser aussah. Nach zwei Tagen auf See hatte sie wieder Farbe im Gesicht und sogar Appetit. Dass sie eine Meerblickkabine gebucht hatte, bereute sie im Nachhinein. Tröstend hingegen war die Wettervorhersage, die nach zwei tropischen Gewittertagen endlich Sonne versprach – allerdings mit dem bitteren Zusatz von einer Luftfeuchtigkeit von 70 Prozent. Und nicht zu vergessen, die erneute Warnung vor dem Zika-Virus. Eine Stunde vor dem Dinner legte sie sich aufs Bett und steckte das Kissen zwischen Wand und Rücken. Sie öffnete ihr kleines schwarzes Buch, das auf dem Nachtschrank lag. Schreiben beruhigte sie. Und außerdem wollte sie nach der Kreuzfahrt einen Blog erstellen.
Das Schwanken hat ein Ende. Nach zwei Tagen fühle ich mich wieder wie ein Mensch. Gleich verlasse ich zum ersten Mal meine Kabine und gehe zum Essen. Ich ziehe das blaue Kleid an. Natürlich will ich mit einem Mann spielen, auch wenn ich realistisch sein sollte. Mir fiel schon in La Romana dieser große Mann mit den schwarzen Haaren auf. Er hat mein Ticket aufgehoben, das ich absichtlich habe fallen lassen. Die Hände, so schön und vor allem ringlos… Und diese Stimme. Mit „You’re welcome“ kam zwar nur ein Hauch von Traubenzuckerduft aus seinem Mund, aber wir haben kommuniziert. Er schien auch ohne Begleitung zu sein. Ich werde Ausschau nach ihm halten. Natürlich erwarte ich hier keine Romanze. Aber etwas in mir glaubt einen Typ á la Leonardo hier zu finden.
Abrupt klappte sie ihr Buch zu. „Ich ticke nicht richtig!“
Kaum hatte sie ihre Kabine verlassen, entdeckte sie eine Check-in-Karte auf dem royal-blauen Teppich. Ein Wink? Nicht dass ihr Schiffsnachbar der besagte Mann… Gerade als sie die Karte aufheben wollte, kam jemand aus der Kabine.
„Was machen Sie denn da?“ Ein Mann mit dichtem weißem Haar stand im Türrahmen seiner Kabine und knöpfte sein Hemd bis zum Kinn zu, das krötengleich über den Kragen schlabberte.
„Ihre Karte…“ Sie hob sie auf und reichte sie ihm.
„Ja, danke!“, sagte er gereizt. „Mein Portemonnaie haben Sie zufälligerweise nicht gesehen?“ Er tastete seine Hosentaschen ab. „Wie viel Bargeld haben Sie eigentlich dabei?“
„Etwas!“ Sie wollte nicht sagen, dass ihn das nichts anging, denn er war für die nächsten Wochen ihr Nachbar. Warum musste es ausgerechnet ein deutscher, fettleibiger, missmutiger Rentner sein, wo doch hier Menschen aus der ganzen Welt versammelt waren. Sie ließ ihn hinter sich und lief zum Speisesaal, angestaut mit hohen Erwartungen und Ansprüchen – nicht an die Perlhuhnbrust auf einer Mangosauce, sondern an die männlichen Gäste.