Von Sartre bis Houellebecq – Iris Radischs kompakter Streifzug durch die französische Literatur der Nachkriegszeit

von Michael Fassel

Um die heutigen französischen Literaten und Intellektuellen zu verstehen, bedarf es mehr als ein Interview mit Michel Houellebecq zu lesen. Vielmehr ist ein Blick auf die Nachkriegszeit, auf Sartre und viele andere Autor*innen der vergangenen Jahrzehnte aufschlussreich, um sich ein literaturhistorisches und zugleich ein gesellschaftliches Bild der Literatur der Grande Nation zu machen.
Aber warum schreiben die Franzosen so gute Bücher, wie Iris Radisch mit dem Titel ihres Buches suggeriert? Die Redaktionsleiterin des Zeit-Feuilletons führt im unterhaltsamen Plauderton die Leser*innen durch das literarische Frankreich der Nachkriegszeit. Mit einem leicht subjektiven Blick hebt sie bekannte, umstrittene und teils – zumindest für deutsche Ohren – eher unbekannte Autor*innen hervor. 

Franzosen

(Bildquelle: https://www.rowohlt.de/hardcover/iris-radisch-warum-die-franzosen-so-gute-buecher-schreiben.html/ Bildrechte: © Rowohlt Verlag 2017.)

Bereits im ersten Kapitel des Buches haben die großen Namen wie Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus ihren großen Auftritt – und auch in späteren Kapiteln erheben die großen französischen Denker ihre Stimme. Dabei umreißt Radisch verständlich und zugleich ohne Simplifizierung die philosophischen Strömungen, beschreibt die gesellschaftspolitischen Stimmungen in Frankreich und spickt die Vorstellungen der Schriftsteller*innen mit erfrischenden Anekdoten. So stieg Sartre, als die Befreiung durch die Alliierten zum Greifen nahe war, auf einen Schrank „und dirigiert ein imaginäres Orchester, während Camus am Boden die Kochtöpfe schlägt.“ (S. 10). Ein Sinnbild für den Platz, den er schließlich auf der intellektuellen Bühne einnimmt, spielt er doch in der Philosophie und der Literatur eine gewichtige Rolle – wie Camus oder de Beauvoir.
Iris Radisch gelingt es, obgleich sie keine Zeitzeugin ist, die Atmosphäre in jenen Tagen am Ende des Zweiten Weltkriegs einzufangen, die in der „die Geburtsstunde des Existentialismus“ zum Ausdruck kommt: „Die große Glocke von Notre-Dame beginnt zu läuten, andere Glocken fallen ein, auf den Straßen singt man die Marseillaise, Sprechchöre skandieren ,Libération! Libération!‘ Selbst die spröde de Beauvoir tanzt und singt jetzt […].“ (S. 16).

Es ist nicht nur die unterhaltsame und gleichzeitig sehr gut informierende Schreibweise Radischs, die die Leser*innen mit wertenden und treffenden Kommentaren an die Hand durch das literarische Frankreich von 1944 bis 2015 nimmt. Das Buch bekommt nämlich vor allem insofern ein Mehrwert, als die Redakteurin mit einigen französischen Autor*innen Gespräche geführt hat. Da interessiert man sich als Leser*in durchaus, ob Radisch aus dem Nähkästchen plaudert und etwa von ihrem Besuch auf „der Etage über der Avenue de la République“ bei Assia Djebar erzählt: „Ein Rendezvous mit Assia Djebar zu haben ist ein Glück. […]. Es ist ein Glück, weil man, kaum hat man den Mantel im Salon über die Stuhllehne gelegt und auf dem Diwan Platz genommen, in einen Wärmestrom des Erzählens hineingezogen wird, aus dem man nie wieder auftauchen möchte.“ (S. 141). Genauso spannend: Das Gespräch mit „Literaturterminator“ (S. 197) Michel Houellebecq im Januar 2015 in Köln. „Wie soll man Michel Houellebecq beschreiben?“, sinniert Radisch und widerlegt den optischen Eindruck, die offensichtlich viele Fotos vermitteln, denn er sehe „in Wirklichkeit viel besser aus als auf den jüngsten Fotos, die ihn im vorletzten Stadium des Verfalls zu zeigen scheinen“ (S. 217). Es sind insbesondere die subjektiven Eindrücke, die das Buch so lesenswert machen, denn Radisch geht damit wohldosiert um. Als Leser*in wollen wir schließlich die so vermeintlich unerreichbaren Autor*innen genauso gut fassen können wie ihre eigenen Figuren.

Zurück zum Titel. Es dauert nicht lange, bis Radisch eine erste mögliche Antwort anbietet, warum die Franzosen denn nun so gute Bücher schreiben. Und soweit entfernt ist man da nicht mal vom Privatleben – oder genauer gesagt: vom Liebesleben der französischen Autor*innen entfernt. Man muss die Sätze mehrmals Revue passieren lassen, ehe man die bewegten Beziehungsgeflechte Sartres und de Beauvoirs versteht: „Simone de Beauvoir und Sartre können sich die gemeinsame Geliebte, Beauvoirs ehemalige Schülerin Olga Kosakiewicz […] nicht mehr teilen, da diese es vorgezogen hat, Beauvoirs Liebhaber und Sartres ehemaligen Schüler Jacques-Lauren Bos zu heiraten, daraufhin verlegt sich Sartre auf Beauvoirs ehemalige Liebhaberin Bianca […].“ (S. 22). So schlussfolgert Radisch: „Im Einzelnen ist das nachzulesen in den Romanen Sie kam und blieb, Die Mandarins und die Die Zeit der Reife, die allesamt bewiesen, dass die Franzosen unter anderem deswegen so gute Bücher schreiben, weil sie ein so ungewöhnlich kompliziertes Liebesleben haben.“ (S. 22f.). Eine Antwort, die Sinn macht und die gefällt. Vielleicht ein Rezept, das auch hierzulande ausprobiert werden sollte, damit man eines Tages ein Buch mit dem Titel Warum die Deutschen so gute Bücher schreiben in den Händen halten kann.

Weitere Antworten auf die Frage, warum die Franzosen so gute Bücher schreiben, findet ihr in Iris Radischs gleichnamigem Buch, das ihr euch am besten zusammen mit einem Glas Bordeaux und einer Käseplatte zu Gemüte führt. Sowohl für Kenner als auch für Neueinsteiger und Interessierte ist es eine empfehlenswerte Lektüre: kurzweilig, inhaltlich gehaltvoll, zugleich unterhaltsam.