15.09.2014: Zwischen Heimat und Siegen – eine leicht satirische Betrachtung

von Sebastian Wilhelm

Ich erinner´ mich noch gut an den ersten Tag in Siegen.
Damals war es ziemlich grau und regnerisch. Zugegeben, in den letzten Jahren kam dies öfters vor. Als ich am ZOB einen Mann gefragt hatte, wo man in Siegen gut was erleben kann, antwortete er mir nur, dass Siegen eine tote Stadt sei, und zog weiter, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.
Rückwirkend muss ich aber sagen, dass ich nun alles in einem positiven Licht sehe. Ich erlebte in Siegen eine wunderschöne Zeit, lebte dort einmal auf dem Berghang, dann fast im Wald, erlebte und überlebte viele zerstörerische House-Partys und Trinkabende und hatte irgendwann einen knuffeligen, aber sehr bissigen Waschbären als Zwischenmieter in der Mülltonne. Wenn etwas hier unmöglich ist, dann während der Studienzeit keine neuen Leute kennen zu lernen, denn eigentlich kennt hier jeder jeden oder hat ihn zumindest schon mal gesehen. In dieser fast schon familiären Atmosphäre fühlte ich mich doch recht aufgehoben.
In meiner Heimatstadt sehe ich hingegen jeden Tag verwaschene, austauschbare Gesichter, die wie konturlose Geister auf ihr Smartphone starren und dabei einfach an mir vorbeiziehen. Vielleicht muss ich mich hier auch einfach wieder einleben. Vielleicht werden dann aus ihren verwaschenen Gesichtern wieder Menschen aus Fleisch und Blut und für mich wahrnehmbaren Konturen. In Siegen war der Unterschied, dass man die Menschen kannte, über die Jahre kennengelernt hatte und sie vielleicht deshalb anders wahrnahm. In meiner Heimatstadt sind viele Leute, die ich früher kannte, aus verschiedenen Gründen einfach so hin fortgezogen, als hätte ein Sturm sie achtlos mitgenommen und sie quer über die Welt verteilt.
Wenn ich in Siegen mal zur Abwechslung ein Buch ausleihen wollte, spazierte ich satt und zufrieden aus dem Mensa-Foyer, um direkt die Bib zu betreten. In meiner Heimatstadt kam ich gestern aus der Mensa raus, folgte der netten, ellenlangen Wegbeschreibung einer wirklich netten Studentin und verlor mich im Botanischen Garten. Als ich dort wieder herausfand, hatte ich immer noch nicht dieses eine besagte Buch gefunden. Vielleicht ist es gar nicht mal so schlecht, ich wollt das mit der Examensvorbereitung ohnehin noch ein wenig hinauszögern. Mittlerweile merke ich aber, dass die Zeit, während meiner Abstinenz, ungestört weitergetickt ist und sich mit ihr alles verändert hatte. Ich frage mich, ob das mit Siegen auch so sein wird? Ist Siegen für mich eingefroren, gehüllt in einer imaginären Luftblase? Unveränderlich, und das für alle Ewigkeit? Leider werde ich nicht mehr live dabei sein, wenn Siegen durch sein Stadtentwicklungsprojekt „zu neuen Ufern geführt wird“.
Als ich heute Morgen aus einem sehr banalen Traum aufgewacht bin, den ich im Nachhinein direkt wieder vergessen hatte, merkte ich, wieder in der Heimat angelangt zu sein. Machte den Fernseher diesmal früh aus, weil ich nicht wusste, ob der Typ in den Nachrichten mich nicht doch dauernd über das Weltgeschehen anlügt oder nicht. Ich wollte zu einem alten Bücherladen, ich brauchte ja immer noch das Buch. Die neue 300-Millionen-Arkade, damals vor drei Jahren ein lustiges Holzfundament, versperrte mir den früheren Zugang zur Buchhandlung. Irgendwann kam ich zum Laden und wunderte mich, dass hieraus ein Starbucks wurde. Ich genoss den gut geschäumten Caramel-Macchiato wirklich, aber das Buch habe ich bis heute noch nicht bekommen! Manchmal glaube ich, ich hätte länger studieren, die Zeit genießen sollen. Ob ich nun 50 oder 45 Jahre arbeite und nachher wenig oder noch weniger Rente bekomme, spielt doch im Endeffekt keine tragende Rolle mehr.
In Siegen habe ich Montage und Donnerstage sehr geschätzt. Montags gab´s im Louisiana lecker Bürger zum halben Preis und am Donnerstag Jumbo-Cocktails für einen Fünfer im Extra Blatt. Im Loui meiner Heimatstadt bin ich am Wochenende nicht reingekommen, weil der snobige Türsteher meine Basecap nicht mochte. Im heimatlichen Extrablatt lächelten mir hingegen nur alte, ergraute Leute zu und tratschten über ihre Enkelkinder. Daher gehe ich seit einigen Jahren immer, wenn ich in meiner Heimat bin, in eine kubanisch-spanische Salsabar, und weiß bis heute noch nicht so richtig, warum. Ich kann kein Spanisch und auch kein Salsa! Ist es der schönen Momente wegen, die ich hiermit verbinde, der Freunde und Bekannten, die ich hier hab kommen und gehen sehen, der ungepanschten, gut gemixten Caipis, der neuen hübschen Kellnerin, des günstigen Preis- Literverhältnisses beim Bier oder einfach, weil mein kubanisch begeisterter Kumpel mich letzte Woche mal wieder hier reingezerrt hatte? Ich denke, vielleicht liegt es am letzten Grund oder an etwas, was hier zwischen den Zeilen steht. Es ist so befremdlich und doch so eigensinnig vertraut.
Wieso komme ich immer auf meine Heimat zu sprechen, wenn das doch nur von Siegener Studenten gelesen wird?
Ganz einfach. Ich möchte dir hiermit eins sagen: In paar Jahren komm ich mal wieder vorbei, setz mich in die Mensa oder ins Extra Blatt, nur um zu sehen, ob auch hier die eingefrorene Blase platzen wird.