Welche Farbe hat das Meer?

von Viviane-Viola Haase

Kalt und viel zu schwer für seine mickrige Größe liegt er in meiner Hand. Meine Mutter gab ihn mir vor zwölf Jahren, als ich acht war. Ein Morčić in der Form eines Kettenanhängers. Ein Glücksbringer. Wir saßen auf unserer Sorgenbank am Hafen. Dort konnte ich von meinen Ängsten erzählen und sie stiegen in eines der Schiffe und segelten ins offene Meer hinaus. Danach fühlte ich mich besser. Wir schauten aufs Meer und bewunderten seine Farben. Ganz hinten am Horizont war es fast schwarz. Ein tiefes Nachtblau, dessen Oberfläche im Glanz der Sonne silbrig schimmerte und einzelne Funken in den Himmel zu  werfen schien. Das glitzernde Nachtblau ging über in ein kräftiges Azur; die Farbe der winzigen Punkte, die den Turban meines Morčićs zierten, gefolgt von einem grünlichen Blau, das wie in einem Aquarellgemälde in ein zartes Türkis verlief, welches in weiß schäumenden Wellen an die Steinwand vor uns schlug, um sich schließlich mit einem leisen Rauschen wieder zu verabschieden.   Weiterlesen

Spaghetti Carbonara

von Anonym

Wie immer braucht sie die zusätzliche Kraft ihrer Schulter, um die Glastür zu öffnen. Sie tritt ein, Wärme schlägt ihr ins Gesicht, wohlig schließt sie ihre Augen und genießt den Temperaturunterschied. Ihre kirschroten Wangen, die sie sich in der Januarkälte geholt hat, gieren nach der Hitze und speichern diese ab. Ihr Blick schweift durch den Raum. Als sie ihr Ziel entdeckt, steuert sie auf den Tisch in der hinteren Ecke zu. Sie zögert einen unmerklichen Moment, ob sie sich nicht an den Tisch nebenan setzen soll. Doch wie immer nimmt sie am linken Tisch Platz. Weiterlesen

Die perfekte Komposition

von Miriam Richter

Fast wie auf einem Gemälde schlängelte sich der Mondschein durch die kahlen Äste des schneebedeckten Waldes. Es war eine ruhige, klare Nacht. Nicht eine Wolke erstreckte sich am Himmel. Nur ein einziges Geräusch störte die angenehme Stille. Ein junger Mann joggte den Waldweg entlang. Rhythmisch waren seine Schritte und sein flacher Atem zu hören. In seinem leicht abgenutzten, weißen Jogginganzug passte er sich perfekt seiner Umgebung an. Einzig der rote Streifen an seinen alten Nike-Turnschuhen zeugte davon, dass er nicht zu den vielen Gewächsen gehörte, die den mit lockerem Schnee bedeckten Weg, auf welchem er mit jedem Schritt deutliche Spuren hinterließ, säumten. Er war völlig in seinem Lauf versunken. Dennoch blieb er unverhofft stehen, als er auf einer kleinen Lichtung ankam, und drehte sich um. Er schien etwas im Geäst zu suchen. Weiterlesen

Spurensuche

von Michael Fassel

Kniehohes Unkraut vor der Haustür, die Fassade bröckelt, zerbrochene Schieferplatten liegen auf dem Gehsteig. Stürme haben Haus und Garten erobert, kein Mensch außer mir wagt sich hier noch hinein. Aus dem Briefkasten ragt nasses Papier, von Regen oder Schnee verfärbt, völlig aufgelöst. Ich will es mir genauer anschauen, es rausziehen, doch es klebt nur an meinen Fingern. Die Schrift ist so verschwommen, dass ich das Datum der Werbeblättchen nicht mehr erkennen kann. Weiterlesen

Die Katze

von Natalie Meyer

Sie aßen zu Mittag. Sie hatte mal wieder alles anbrennen lassen.
Aber das war er nach all den Jahren bereits gewohnt, was den Geschmack des Essens trotzdem nicht verbesserte.
Mürrisch schob er sich eine Gabel mit Gemüse in den Mund.
Er sah unter sich, denn sie wollte er nicht anblicken. Es war nicht zu ertragen, was aus ihr geworden war. Weiterlesen

Flaschenpost

von Michael Fassel

Und wieder gehe ich am Strand entlang. Ich schirme meine Augen ab und blicke auf die untergehende Sonne am Horizont. Der Wind pfeift so laut, dass ich das Schreien der Möwen nicht mehr hören kann. Immer suche ich mir stets solche Tage aus, an denen wenige Leute am Nordseestrand unterwegs sind. Ich gehöre nämlich zu denjenigen, die gerne Muscheln sammeln, obwohl ich weiß, dass sie weder meine Fensterbänke noch meine Schränke dekorieren, nein, sie verschwinden ja doch im Müll. Weiterlesen

Denn das Leben fängt in Schwerte an

von Nicola Airo

Auf nassem Asphalt fahren wir. Durch fallende Tropfen, die auf Frontscheiben explodieren. Zum Zerfließen von Wind getrieben beginnt ein Wettlauf. Vom Scheibenwischer unterbrochen, freie Sicht. Vorbei an Tankstellen, die wir nicht zum Tanken betraten. Rückkehr. Die letzten Nächte wurden kaum mit Schlaf gefüllt. Iso-Matten mit Polyesterhimmel. Wie gepuppte Raupen lagen wir in Schlafsäcken. Jetzt sind wir hier. Südöstlich von Dortmund, östlicher Teil des Ruhrgebiets. Neben Hörde und Hombruch, zwischen Syburg und Sümmern. Weiterlesen

Der Sektenführer und die schöne Stripperin*

von Tatjana Enns

Es war einmal ein junges Mädchen. Das hatte keine Familie und wuchs am Rande eines Dorfes auf, welches von schwerer Armut geplagt wurde. Ihr hübsches Gesicht und ihr  glänzendes Haar machten sie zu einer wunderschönen, jungen Dame. Doch all die Geldsorgen machten die Menschen im Dorfe blind. Ihre Augen waren verschlossen für das Schöne und Gute. Sie sahen nur die schlechten Dinge und waren sehr verbittert. Da schaute das Mädchen eines Abends hinaus aus seinem Dachkammerfenster und sah hinauf zu den Sternen. „Wie gern wäre ich doch reich“, flüsterte sie sich selbst zu. „Was bringt mir all die Schönheit, wenn ich doch nicht glücklich sein kann.“ Voller Trauer im Herzen entschied sie sich einen Spaziergang zu machen. Gekleidet in ihren alten Lumpen verließ sie das Haus. Schon bald entfernte sie sich immer weiter von ihrem Dorf und spazierte die Straße runter. Aus der Ferne hörte sie immer lauter werdende Klänge. Flackernde Lichter und rhythmische Musik erweckten ihr Interesse und da stand sie auch schon vor einem Haus, dessen Tür einen Spalt geöffnet war. Weiterlesen

Fronturlaub

von Sarah Buschmeier

Als ich das Haus wieder verließ, war die Welt eine andere geworden. Die Nacht war über die Stadt hinein gebrochen und der Herbst zeigte seine dunkle Seite. Regen fiel in finsteren Schleiern vom Himmel herab und im Rinnstein hatte sich ein kleiner Bach gebildet. Die leuchtenden Punkte der Straßenlaternen schwammen inmitten der Pfützen, die sich zwischen den Pflastersteinen gesammelt hatten. Weiterlesen

Erzählung (ohne Titel)

von Rebecca Luyken

Es ist Sonntagmorgen. Elf Uhr. Herr K. läuft durch den Wald. Das macht er jeden Sonntag. Eigentlich joggt er immer abends, weil er bis nachmittags keine Zeit hat. Da ist er immer in der Schule. Aber sonntags läuft er morgens. Im klaren Licht. Das mag Herr K. Die Pulsuhr an seinem Handgelenk zeigt 160. Herr K.‘s Herz schlägt gleichmäßig und kräftig. Er joggt, seit er in dieser Stadt wohnt. Herr K. hat eine kleine Wohnung, zwei Straßen von der Schule entfernt. Er unterrichtet Deutsch. Oberstufe. Herr K. liebt seinen Job. Besonders seit dem letzten Jahr. Da hat er den Deutschleistungskurs von Frau T. übernommen. Nicht sehr stark, der Kurs, eigentlich nichts, was ein Lehrer sich wünscht… Weiterlesen