Reise zur Grenzlinie

von Ramon Pelz

Die Flamme flackert hier in der unangenehm kühlen Zimmerluft und wirkt hypnotisierend auf mich. Die Kälte ist mir egal, ich möchte etwas erledigen. Ich, der da an einem alten Holztisch mit tiefen Furchen und dunkler Maserung sitzt. Nur eine Feder und Tinte sollen mir zu dem Zwecke dienlich sein, das leere, noch unschuldige Blatt Papier als zweidimensionales Objekt zu benutzen, um meine Gedanken, meine Gefühle, meine Erinnerungen einzufangen. Draußen ist es noch dunkel und noch kälter als hier, an meinem armselig leeren, krank wirkenden Tisch. Kein Regengeräusch, kein Donnern, wie es eigentlich treffend zur drückenden Stimmung würde beitragen können, denke ich mir, während ich wie gebannt auf die tänzelnde Flamme der Kerze auf dem Tisch starre, mit nahezu irrem Blick, die Augen angestrengt und in tausend Gedanken gleichzeitig wühlend. Weiterlesen

Die Wurzel allen Übels

von Johannes Herbst

In ruhigen, sich wiederholenden Bewegungen fuhr er mit seiner zitternden Hand durch ihre verklebten Haare. Kaum wahrnehmbar kauerten sie neben der stillstehenden Rolltreppe. Er lehnte sich gegen die orange gekachelte Wand, sie lag in seinen Armen und ihr Kopf hob und senkte sich bei jedem seiner Atemzüge.
Zuvor verabredeten sie sich um viertel vor sechs am Kiosk „Turkoz“ direkt neben der S-Bahnstation. Sie kam 20 Minuten zu spät, er rauchte zwei Zigaretten und kaufte sich eine Packung Kaugummis. Kontinuierlich formulierte er seine Gedanken in Sätze, stellte sie wieder um und versuchte ihre Reaktion vorauszuahnen. Als sie ihm aber von hinten auf den Rücken sprang, drängte sich ihr Geruch durch seine Nase und vertrieb alles, was gerade noch den Platz in seinem Schädel eingenommen hatte. Weiterlesen

Das Date

von Benedikt Smaluhn

Du bist zu früh. Du bist immer zu früh. „Lieber 30 Minuten zu früh als 5 Minuten zu spät“, sagst du immer. Manchmal fragst du dich, ob du auch so pünktlich auf die Welt gekommen bist, und nimmst dir vor, deine Mutter das nächste Mal, wenn du sie siehst, danach zu fragen. Aber wie so vieles hast du es bis dahin längst wieder vergessen. Als würdest du in deiner Wohnung in ein anderes Zimmer gehen und nicht mehr wissen warum. Du nimmst dir vor wieder mehr Memory zu spielen. Weiterlesen

Am Elbufer

von Sarah Buschmeier

Jeden Tag beobachtete er von einem Fenster aus die grau-grüne Ente. Zwischen Elbe und dem Mehrfamilienhaus, in dem er sich eine Wohnung gemietet hatte, befanden sich lediglich einige Linden und eine Straße. Es war Samstagnachmittag. Wie jeden Tag um diese Zeit war es sehr ruhig. Im Fernsehen lief die Sportschau. Es ging um Seeler, zum zweiten Mal war er Fußballer des Jahres geworden. Wieder starrte er aus dem Fenster. Lena, seine Ehefrau, war vor sieben Jahren gestorben. Eine Weile hatte er noch mit seiner Tochter in dem liebevoll von Lena und ihm hergerichteten Altbau gelebt. Das junge Mädchen war früh ausgezogen und hatte angefangen zu studieren. Nach einem heftigen Streit kam sie einfach nicht wieder. Sie wollte den elterlichen Raumausstatterbetrieb nicht übernehmen. Vielleicht hatte es ihr auch die fehlende väterliche Aufmerksamkeit leichter gemacht, ihr Zuhause zu verlassen. Nach dem Tod von Lena war er nicht nur einsamer, auch konnte er sein Mitgefühl nicht mehr ausdrücken und beschäftigte sich kaum noch mit seiner Umwelt. Den Betrieb hatte er aufgegeben, ohne Lena fehlte ihm die Inspiration. Seine Tochter hatte er nicht aufhalten können. Das Haus hatte er verkauft und war in diese anonyme Wohnung gezogen. Weiterlesen

Der Wal im Baum

von Minou Wallesch

Die meisten Flecken auf einem Schal stammen von Kakao. Oder vielleicht von Kaffee. Im Winter vor allem von Kakao. Es passiert, wenn man ihn an einem sehr kalten Wintermorgen noch mal eben stehend in der Küche in sich hineinschüttet, bevor man sich hinaus wagt, um sich behutsam unter die anderen morgendlichen Gestalten zu mischen. Oder es passiert, weil man sich schon hinausgewagt hat und sich ein bisschen Wärme erschlürfen möchte, während man auf eine Bahn wartet. Weiterlesen

Welche Farbe hat das Meer?

von Viviane-Viola Haase

Kalt und viel zu schwer für seine mickrige Größe liegt er in meiner Hand. Meine Mutter gab ihn mir vor zwölf Jahren, als ich acht war. Ein Morčić in der Form eines Kettenanhängers. Ein Glücksbringer. Wir saßen auf unserer Sorgenbank am Hafen. Dort konnte ich von meinen Ängsten erzählen und sie stiegen in eines der Schiffe und segelten ins offene Meer hinaus. Danach fühlte ich mich besser. Wir schauten aufs Meer und bewunderten seine Farben. Ganz hinten am Horizont war es fast schwarz. Ein tiefes Nachtblau, dessen Oberfläche im Glanz der Sonne silbrig schimmerte und einzelne Funken in den Himmel zu  werfen schien. Das glitzernde Nachtblau ging über in ein kräftiges Azur; die Farbe der winzigen Punkte, die den Turban meines Morčićs zierten, gefolgt von einem grünlichen Blau, das wie in einem Aquarellgemälde in ein zartes Türkis verlief, welches in weiß schäumenden Wellen an die Steinwand vor uns schlug, um sich schließlich mit einem leisen Rauschen wieder zu verabschieden.   Weiterlesen

Spaghetti Carbonara

von Anonym

Wie immer braucht sie die zusätzliche Kraft ihrer Schulter, um die Glastür zu öffnen. Sie tritt ein, Wärme schlägt ihr ins Gesicht, wohlig schließt sie ihre Augen und genießt den Temperaturunterschied. Ihre kirschroten Wangen, die sie sich in der Januarkälte geholt hat, gieren nach der Hitze und speichern diese ab. Ihr Blick schweift durch den Raum. Als sie ihr Ziel entdeckt, steuert sie auf den Tisch in der hinteren Ecke zu. Sie zögert einen unmerklichen Moment, ob sie sich nicht an den Tisch nebenan setzen soll. Doch wie immer nimmt sie am linken Tisch Platz. Weiterlesen

Die perfekte Komposition

von Miriam Richter

Fast wie auf einem Gemälde schlängelte sich der Mondschein durch die kahlen Äste des schneebedeckten Waldes. Es war eine ruhige, klare Nacht. Nicht eine Wolke erstreckte sich am Himmel. Nur ein einziges Geräusch störte die angenehme Stille. Ein junger Mann joggte den Waldweg entlang. Rhythmisch waren seine Schritte und sein flacher Atem zu hören. In seinem leicht abgenutzten, weißen Jogginganzug passte er sich perfekt seiner Umgebung an. Einzig der rote Streifen an seinen alten Nike-Turnschuhen zeugte davon, dass er nicht zu den vielen Gewächsen gehörte, die den mit lockerem Schnee bedeckten Weg, auf welchem er mit jedem Schritt deutliche Spuren hinterließ, säumten. Er war völlig in seinem Lauf versunken. Dennoch blieb er unverhofft stehen, als er auf einer kleinen Lichtung ankam, und drehte sich um. Er schien etwas im Geäst zu suchen. Weiterlesen

Spurensuche

von Michael Fassel

Kniehohes Unkraut vor der Haustür, die Fassade bröckelt, zerbrochene Schieferplatten liegen auf dem Gehsteig. Stürme haben Haus und Garten erobert, kein Mensch außer mir wagt sich hier noch hinein. Aus dem Briefkasten ragt nasses Papier, von Regen oder Schnee verfärbt, völlig aufgelöst. Ich will es mir genauer anschauen, es rausziehen, doch es klebt nur an meinen Fingern. Die Schrift ist so verschwommen, dass ich das Datum der Werbeblättchen nicht mehr erkennen kann. Weiterlesen

Die Katze

von Natalie Meyer

Sie aßen zu Mittag. Sie hatte mal wieder alles anbrennen lassen.
Aber das war er nach all den Jahren bereits gewohnt, was den Geschmack des Essens trotzdem nicht verbesserte.
Mürrisch schob er sich eine Gabel mit Gemüse in den Mund.
Er sah unter sich, denn sie wollte er nicht anblicken. Es war nicht zu ertragen, was aus ihr geworden war. Weiterlesen