von Laura Schönwies
Karriere oder Liebe? Vor dieser komplizierten Frage steht Goethes Held Clavigo aus dem gleichnamigen Trauerspiel, der seine Verlobte Marie zugunsten einer Karriere als Schriftsteller verlässt. Laura Schönwies über die Aufführung der „Neuen Studiobühne“ unter Regisseur Jan Seithe.
Ein schlichtes Bühnenbild lässt noch nicht erahnen, was für eine gewaltige Inszenierung die Neue Studiobühne der Uni Siegen im Kleinen Theater des Kulturhauses Lyz auf die Beine gestellt hat. Lediglich ein einfacher Wohnraum ist zu sehen, darin nur ein altes Sofa, eine alte Kiste muss als Regal herhalten. Einige Stufen hinauf zu einem alten Holztisch, der Clavigos Arbeitszimmer andeutet. Die Stufen erweisen sich im Verlauf des Stückes als persönliche Karriereleiter des Möchtegern-Schriftstellers. So erkennt der Zuschauer sofort, auf welcher Stufe seines Lebens sich Clavigo gerade befindet. Die zwei Ebenen des Wohnraumes und des Arbeitszimmers deuten zudem an, dass gerade derjenige in einem Konflikt obenauf ist, der sich in der höheren Etage befindet. Das Bühnenbild verleiht dem Stück zusätzliche Interpretationstiefe.
Und noch eine Ebene fügt Regisseur Jan Seithe dem Sturm-und-Drang-Klassikers geschickt hinzu: Weiße Laken, die den Bühnenhintergrund markieren, werden zu Leinwänden, die den Bühnenraum spiegelbildlich weiterführten und die Bühne dadurch optisch noch weiter nach hinten erweitern. Besonders originell wird dieses Mittel eingesetzt, als Clavigos unglückliche Ex-Verlobte Marie, sich auf das Sofa begibt, jedoch von der Projektion anderer Figuren verdrängt wird.
Man muss sich etwas gedulden, bis das erste Wort fällt. Zunächst dominieren visuelle Eindrücke das Geschehen. Aber schon mit seinem ersten Auftritt kommt Clavigo mit einer beeindruckenden Präsenz daher. Sofort erkennt der Zuschauer ihn an den Hosenträgern, welche Programmhefte und Flyer zieren. Pascal Nevelz brilliert in der Rolle des Clavigo, der sich einfach nicht so recht entscheiden konnte, was er denn möchte. Als er als Neuling in der Stadt angekommen war, hatten ihn Marie und ihre Familie liebevoll aufgenommen. Doch bald genießt er erste Erfolge mit seiner Wochenzeitschrift „Der Denker“ – und schon verabschiedet er sich von der Idee, sich an eine Familie zu binden.
An diesem Punkt setzt das Stück ein. Sein bester Freund Carlos unterstützt Clavigos Vorhaben, Frau und Familie hinter sich zu lassen, die nur „hinderlich“ seien. Marie zerfließt derweil vor Kummer. Da kommt Beaumarchais seiner leidgeprüften Schwester zur Hilfe: Er zwingt Clavigo zu einer schriftlichen Entschuldigung für das, was er Marie angetan hat. Er will das Schreiben vervielfältigen und veröffentlichen. Zähneknirschend gehorcht Clavigo. Marie lässt sich dadurch erweichen und schon bald steht der Versöhnung und einer Hochzeit scheinbar nichts mehr im Wege. Pascal Nevelz und Marie-Darstellerin Rosalie Bertele zeigen hier ein gefühlvolles Zusammenspiel. Langsam bewegen sie sich aufeinander zu. Es ist sogar zu erkennen, wie sich Maries Gesichtszüge langsam lockern.
Einem glücklichen Ende stünde nun nichts mehr im Wege, wenn da nicht wieder Zweifel in Clavigo aufkeimten, die sein Freund Carlos nur zu gern anstachelt. Hier präsentiert Pascal Nevelz ebenfalls ein beeindruckendes Mienenspiel: In seinen Augen blitzt in einem Moment die pure Entschlossenheit auf, während im nächsten Moment sich schon wieder eine Falte des Zweifels auf seiner Stirn abzeichnet.
Jan Seithe adaptiert dieses Stück aus dem 18. Jahrhundert für die heutige Zeit, ohne dass es gekünstelt wirkt. Die Themen – Liebe, Freundschaft und Macht – sind eben zeitlos. Für Schmunzler im Publikum sorgen die herrlichen Männergespräche, wenn Carlos seinem verweichlichten Kumpel entgegenruft: „Ermanne dich!“ Oder Szenen, in denen Marie und ihre Schwestern an der Männerwelt verzweifeln. Sophie kann das Leiden nicht mehr ertragen und so gibt ihrer Schwester den vermeintlich klugen Rat „Marie, nimm ihn und sei glücklich“. Auf Verwandte sollte man besser nicht hören: Am Ende stirbt Marie an gebrochenem Herzen. Clavigo überlebt – anders als bei Goethe – in Jan Seithes Inszenierung, was die zufriedenen Zuschauer der Neuen Studiobühne ihm auch von Herzen gönnen.
Hauptdarsteller Pascal Nevelz war zufrieden mit seiner Leistung: „Natürlich ist man immer selbstkritisch, aber ich denke, je häufiger man spielt, desto ruhiger wird man auf der Bühne. Ich denke, wir konnten die Dramatik angemessen zuspitzen und gleichzeitig einige Figuren etwas lustiger anlegen. Jede Figur ist immer wieder eine neue Herausforderung.“ Wer sich dieser Herausforderung auch einmal stellen möchte, bekommt im kommenden Sommersemester wieder die Gelegenheit dazu, wenn Jan Seithe nach neuen Darstellern sucht, unter anderem über die
Facebook-Seite der Neuen Studiobühne.